Mythos als Weltdeutung
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Diese Kategorien
zerschneiden den Mythos in inkohärente Aspekte, ergeben
aber in ihrer Summe ein klares Bild:
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Märchen
entstammen der Phantasie, entscheidend ist in ihnen nicht,
was wirklich, sondern was wünschenswert ist. Das
"Zauberhafte" ist für sie "konstitutiv".
Sie entsprechen der psychischen Struktur des drei- bis
vierjährigen Kindes, das mit ihrer Hilfe eine gewisse
Ordnung in seine chaotischen Phantasien bekommt. (Klowski
12f. (nach B.Bettelheim)).
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Die pädagogische
und psychagogische Funktion von Märchen und Mythos:
Die Märchenkritik hatte den pädagogischen Wert
der Märchen in der Hauptsache mit folgenden drei
Arumenten bestritten:
1.) Sie sind zu irreal und wirklichkeitsfremd, um auf
das Leben vorbereiten zu können;
2.) Die feudale Sozialstruktur der Märchen ist antiquiert
und führt zu Obrigkeitsgehorsam;
3.) Die Grausamkeit der Märchen könnte zu einer
Verrohung führen.
Die Gegenkritik (Bettelheim) hat gezeigt. dass diese Kriterien
für die Bewusstseinsstufe des Kindes völlig
irrelevant sind, andererseits den Märchen ein hoher
Erziehungswert zukommt:
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"Märchen
vermitteln wichtige Botschaften auf bewusster, vorbewusster
und unbewusster Ebene entsprechend ihrer jeweiligen
Entwicklungsstufe. Da es in ihnen um universelle menschliche
Probleme geht, und ganz besonders um solche, die das
kindliche Gemüt beschäftigen, fördern
sie die Entwicklung des aufkeimenden Ichs; zugleich
lösen sie vorbewusste und unbewusste Spannungen."
(B. Bettelheim. 11; zitiert nach Klowski, 16)
Diese Leistung erbringt analog auch der Mythos für
die Evolution des menschlichen Bewusstseins.
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Märchen
lehren direkt nichts über die komplizierte, für
Kinder undurchschaubare moderne Gesellschaft und das
verwirrende Spiel der menschlichen Psyche; indirekt
aber sehr viel, weil sie sowohl die Gesellschaft als
auch die eigenen chaotischen seelischen Phantasien auf
klare, für das Kind durchschaubare Strukturen reduzieren.
(nach Bettelheim, bei Klowski, 15) - Diese "pädagogische"
Leistung erbringt analog auch der Mythos für die
Evolution des menschlichen Bewusstseins.
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Das "freie
Spiel der Phantasie" ("wildes, köstliches
Rankenwerk") (v. Weizsäcker) - soweit es nicht
der "Wahrheit des Mythos" Abbruch tut. Die dichterische
Sprache ist durch Metaphorik und Metonymie dem Mythos
wesensverwandt.
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Wie die Dichtung
ist der Mythos ursprünglich durch seine poetische
Form gebunden. Dies garantiert in einer Zeit der mündlichen
Überlieferung die unverfälschte und wortgetreue
Weitergabe und verleiht außerdem liturgisch-feierlichen
und rituellen Charakter.
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Von der Dichtung
geht wie vom Mythos "eine Wahrheit aus, die uns tiefer
ergreift als alle Richtigkeit der Wissenschaften."
(Otto 275)
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Der ursprüngliche
Mythos will und kann "unser Leben von Grund auf umgestalten",
Dichtung kann uns nur für Augenblicke erheben (Otto
275).
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Die umfassende, ursprüngliche,
begründende und konstitutive Realität des Mythos
wird im Kult wirksam und lebendig. In ihm werden
die vorzeitlichen oder endzeitlichen Geschehnisse innerzeitlich
und gegenwärtig wirksam. (Fries 147f)
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Die im Kult vollzogene Handlung
erinnert an das jeweilige mythische Geschehen, wiederholt
und repräsentiert es in symbolischen Zeichen, Handlungen
und Gebärden. Das Wort, das die Kulthandlung begleitet,
wiederholt das mythische Wort und eröffnet die in
ihm gegebene und in der Gegenwart sich aktualisierende
Realitäts- und Wirklichkeitsmacht (Fries 148).
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Die Gesamtheit der regelmäßig
wiederholten Handlungen macht den Kult aus. Auf ihm beruht
die Wirksamkeit des Glaubens. Er ruft die Eindrücke
der Freude, des inneren Friedens, der Heiterkeit, der
Begeisterung hervor. "Der Kult ist nicht nur ein
System von Zeichen, durch die der Glaube sich nach außen
überträgt; er ist eine Sammlung von Mitteln,
durch die dieser sich begründet und periodisch erneuert."
(E. Durkheim, in Oelmüller 222).
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Mythos und Kult gibt es nur
in Verbindung: Der Mythos ist die "heilige Geschichte"
(in der sich das Göttliche offenbart). Der Kult ihre
Begehung, die Wiederholung der erzählten Geschichte
in ritualisierter Form, um sich ihrer heiligenden Wirkung
neu zu versichern. "Die kultische Handlung ist nichts
anderes als die Handlung der göttlichen Wesen in
Menschengestalt." (Otto 273). Der echte Mythos, als
Kultus, ist der Aufstieg des Menschen ins Göttliche
(und daher das "Wissen" von ihm)." (Otto
274).
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Profane Mythen haben entsprechend
ihre profanen Kulte: An die Stelle der Götter (Gottes)
treten die Götzen: "Nostalgie-, Star-, Konsum-Kult").
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Feierlichkeit, Heiligkeit,
Kultcharakter
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Die peinlich genau beachtete,
institutionalisierte Form des Kultvollzugs, deren Einhaltung
allein den Erfolg garantiert. Auch die allgemeine Lebensweise,
die dem Mythos entspricht, hat einen ritualisierten Charakter
(mythisch-religiöse, statt sozialer oder ethischer
Normierung des Handelns).
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Einschneidende Veränderungen
in der menschlichen Biographie sind stets von Ritualen
begleitet: Geburt, Taufe, Einschulung, Konfirmation, Abitur,
Abschluss von Lehre oder Studium, Eheschließung,
Jubiläen in Ehe und Beruf, schließlich das
Sterben. Es handelt sich meist um Vereinigungs-, Initiations-
oder Progressionsrituale, gegen Ende um Abschieds- und
Trauerrituale. (Moser)
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"Eheschließung und
Familiengründung sind in Rituale eingebettet, die
theologische Ewigkeit, juristische Klarheit, soziale Normalität
und emotionale Bindung stützen sollen [...]. Der
neue Status wird verankert bis in tiefste Seelenlagen,
ja die Rituale organisieren die Persönlichkeit neu,
gerade auch dort, wo psychische Belastungen und Unsicherheiten
vorliegen."
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Magie beinhaltet den Glauben,
dass von der rituellen Handlung eine unmittelbare Wirkung
(Zauber, Wunder) ausgehe. Dagegen versteht das mythische
Denken Kult und Ritus als eine Wiederholung (Vergegenwärtigung)
des im Mythos erzählten Geschehens, bzw. als die
wiederholte Epiphanie des Gottes, die dann mittelbar eine
Heilswirkung ausübt. Magisches Denken ist insofern
eine Vorstufe des mythischen Denkens und lebt in ihm (in
subtilerer Form) weiter.
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"Der Inhalt des
religiösen Bewusstseins lässt sich, je weiter
wir ihn bis zu seinen Ursprüngen zurückzuverfolgen
suchen, um so weniger von dem des mythischen Bewusstseins
scheiden. Beide sind derart ineinander verflochten und
verkettet, dass sie sich nirgends in wirklicher Bestimmtheit
voneinander sondern und einander gegenüberstellen
lassen. Versucht man aus dem Glaubensinhalt der Religion
die mythischen Grundbestandteile herauszulösen und
abzuscheiden: so behält man nicht mehr die Religion
in ihrer wirklichen, in ihrer objektiv-geschichtlichen
Erscheinung, sondern nur noch ein Schattenbild von ihr,
eine leere Abstraktion zurück." (Cassirer 175).
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"Trotz dieser unlöslichen
Verwobenheit der Inhalte von Mythos und Religion
(ist) die Form beider nicht die gleiche [...].
Die neue Idealität, die neue geistige "Dimension",
die durch die Religion erschlossen wird, verleiht nicht
nur dem Mythischen eine veränderte "Bedeutung",
sondern führt geradezu den Gegensatz zwischen "Bedeutung"
und "Dasein" erst in das Gebiet des Mythos ein.
Die Religion vollzieht den Schnitt, der dem Mythos als
solchem fremd ist: indem sie sich der sinnlichen Bilder
und Zeichen bedient, weiß sie sie zugleich
als solche - als Ausdrucksmittel, die, wenn sie einen
bestimmten Sinn offenbaren, notwendig zugleich hinter
ihm zurückbleiben, die auf diesen Sinn "hinweisen",
ohne ihn jemals vollständig zu erfassen und auszuschöpfen."
(Cassirer. 175f.)
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"Im Schlafe und Traume
machen wir das ganze Pensum früheren Menschtums durch".
"Ich meine: wie jetzt noch der Mensch im Traume schließt,
schloss die Menschheit auch im Wachen viele Jahrtausende
hindurch; die erste Causa, die dem Geiste einfiel, um
irgendetwas, das der Erklärung bedurfte, zu erklären,
genügte ihm und galt als Wahrheit. [...] Wir können
aus diesen Vorgängen entnehmen, wie spät das
schärfere logische Denken, das Strengnehmen von Ursache
und Wirkung entwickelt worden ist, wenn unsere Vernunft-
und Verstandesfunktionen jetzt noch unwillkürlich
nach jenen primitiven Formen des Schließens zurückgreifen,
und wir ziemlich die Hälfte unseres Lebens in diesem
Zustand leben." (Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches,
Werke Bd. II. S. 27; zitiert nach: Jung [1], 165).
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Der Mythus
ist ein erhalten gebliebenes Stück aus dem infantilen
Seelenleben des Volkes, und der Traum "der Mythus
des lndividuums." (Abraham, Traum und Mythus. 1909.
S. 36; zitiert nach: Jung [1], 166)
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Cassirer unterscheidet
drei Stadien der Sprachform: die mimische, analogische
und symbolische. Die mimische Ausdrucksform kennt noch
nicht die Trennung von "Bedeutung" (Sprachzeichen)
und "Sache": "In seinen ersten Anfängen
gehört das Wort noch der bloßen Daseinssphäre
an: [...] Es weist nicht auf einen dinglichen Inhalt
hin, sondern es setzt sich an seine Stelle; es wird zu
einer eigenen Art von "Ur-Sache" zu einer
Macht, die in das inhaltliche Geschehen und seine kausale
Verkettung eingreift." [...] Und das gleiche Verhältnis
sehen wir nun in der Bildwelt des Mythos vor uns. Auch
das mythische Bild wird, wo es zuerst auftritt, keineswegs
als Bild, als geistiger Ausdruck gefasst. Es ist
vielmehr in die Anschauung der Sachwelt, der "objektiven"
Wirklichkeit und des objektiven Geschehens so fest eingeschmolzen,
dass es als integrierender Bestand von ihr erscheint.
Auch hier gibt es daher ursprünglich keinerlei Scheidung
zwischen dem Reellen und Ideellem, zwischen dem Gebiet
des "Daseins" und dem der "Bedeutung".
[...] "Diese Trennung ist es, die den Anfang des
spezifisch-religiösen Bewusstseins ausmacht"
(173-175).
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"Die Formel
«Vom Mythos zum Logos» unterschlägt die unaufhebbare
Spannung, die zwischen der sakralen und profanen Sprache
besteht; indem sie vorgibt, das Frühere sei im Späteren
aufgehoben, wird aus Glauben Aberglauben, aus der Sehnsucht
nach dem Sinn eine psychische Krankheit. Indessen kann
der Mensch auf keine der beiden Sprachen verzichten; er
ist ein zweisprachiges Wesen." (v.Schirnding, 27f.).
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Nicht der Mythos
personifiziert die im Leben wirksamen Kräfte, sondern
das rationale Denken entpersonifiziert sie. Ursprünglich
sind Abstrakta wie "Freiheit", "Glauben",
"Schicksal" usw. Personen.
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Mythen sind
keine dichterischen Allegorien. Erst als die Mythen durch
die rationale Mythenkritik (Vorsokratische Philosophie,
bes. Xenophanes, Sophisten, Platon) ihre Geltung verloren
haben, versucht man, sie durch Umdeutung wenigstens als
Allegorien zu retten. (s. Nestle!)
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Sententiae excerptae: Lat. zu "Ethik" und "Mythos" Literatur: zu "Ethik" und "Mythos"4385
Bouillard, Henri
Transzendenz und Gott des Glaubens
in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, TBd.1, (Herder) Freiburg, Basel, Wien, 1981
4386
Gadamer, H.-G./ Fries, H.
Mythos und Wissenschaft
in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, TBd.2, (Herder) Freiburg, Basel, Wien, 1981
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