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Die Historizität eines Sophisten
Kallikles ist umstritten. Er tritt im Grunde nur in Platons Gorgias
in Erscheinung. Er vertritt dort das Naturrecht des Stärkeren;
d.h.: Das Recht ist eine Erfindung der Schwachen, um den Starken
so wenigstens die Gleichstellung abzutrotzen. Gerechtigkeit meint
dann die Verpflichtung auf die Gesetzesnormen. Dies bedeutet, dass
staatliches Recht naturwidrig ist, denn die animalische Natur beruht
auf πλεονεξία. Diese animalische Natur wird von klein auf durch
Inkulturation ebenso gebändigt, wie man auch wilde Tiere domestiziert.
Der wahrhafte Mann aber (mit Nietzsche der "Übermensch"
oder die "Blonde Bestie") lässt sich nicht die Zähne
ziehen. Er fügt sich nur zum Schein in die konventionelle "Sklavenmoral"
ein, um um so ungestörter zu herrschen.
Die vollständige Beseitigung der Rechtsordnung scheint also
durchaus nicht das Ziel des Kallikles zu sein: eher der physisch
starke Politiker, der es versteht, innerhalb der konventionellen
Ordnung seinen persönlichen Eigennutz zu mehren. Frei nach
Adam Smith könnte ja gerade darin auch die Steigerung des Gemeinwohl
liegen.
(482c) KALLIKLES: Sokrates,
du scheinst mir jungenhaft übermütig zu reden, wie ein echter
Volksredner; und wenn du jetzt so daherredest, ergeht es Polos genau
so, wie er es dem Gorgias vorwarf. Du hattest nämlich Gorgias
gefragt, (d) ob er, wenn einer zu ihm komme und Rhetorik studieren
wolle, ohne zu wissen, was Gerechtigkeit sei, sie ihn lehren könne,
Gorgias aber schämte sich und bejahte es aus Rücksicht auf
die Moral der Leute, weil sie nämlich Anstoß nehmen, wenn
es einer verneint. Durch dieses Zugeständnis musste er sich notgedrungen
eben darin zu deiner Zufriedenheit in Widersprüche verwickeln,
und hat dich, wie mir scheint, zu Recht damals verlacht.
νεανιεύομαι
- bin Jüngling, verhalte mich wie ein Jüngling, bin übermütig
| δημηγόρος, ον - vor dem Volk redend, Volksredner | ταὐτὸν πάθος
πάσχω τινός - erleide dasselbe wie...; es ergeht mir ebenso wie...
(fig.etymol.) | Γοργίαν ἐρωτώμενον ... αἰσχυνθῆναι ( αὐτὸν: pleonastisch)
- AcI zu: ἔφη γάρ | εἰ διδάξοι sc. <τὰ δίκαια> - Indir.
Frage zu ἐρωτώμενον | φάναι - bejahen, "ja" sagen (Ggt.:
μὴ φάναι) | διὰ τὸ ἔθος - begründet, warum er "ja"
sagte | ἐναντία αὑτῷ εἰπεῖν - in sich Widersprüchliches sagen,
sich in Widersprüche verwickeln |
Jetzt aber erging es ihm selbst ganz genau
so; ich jedenfalls beneide Polos eben darin nicht, dass er dir zugestanden
hat, dass Unrechttun verwerflicher sei als Unrechtleiden. (e) Denn
aus diesem Zugeständnis wirst du ihm im Gespräch einen Strick
drehen und ihm den Mund stopfen, weil er sich schämte, das zu
sagen, was er dachte. Denn du sagst zwar, du verfolgtest die Wahrheit,
nötigst aber in Wahrheit, sich mit gefälligen Äußerungen
über das zu belasten, was der Natur nach nicht richtig ist, doch
nach dem Gesetz.
συμποδίζω
- binde die Füße zusammen, fessele | ἐπιστομίζω - stopfe
das Maul, bringe zum Schweigen | ἄγεις sc. <τοὐς λόγους> - du
bringst die Sprache auf etw. | φορτικός, ής, όν - lästig, belastend
| φύσει... νόμῳ - der Natur nach... dem Gesetz (der Konvention) nach
[wichtigste Antithese der Sophistik, um die bestehenden Verhältnisse
und die traditionelle Moral (τὰ νομικά, δημηγορικά) kritisch zu hinterfragen.
Vgl. Thrasymachos (Bild),
Antiphon VS 87
B 44A.
Denn in der Regel sind Natur und Gesetz
einander entgegengesetzt. Wenn nun einer aus Scham nicht sagt, was
er denkt, verstrickt er sich notgedrungen in Widersprüche. (483a)
Diesen Kunstgriff hast auch du erkannt und missbrauchst ihn in den
Gesprächen, indem du, wenn sich einer gesetzgemäß
äußert, unter der Hand nach der Natur fragst, wenn aber
naturgemäß, nach dem Gesetz. So hast du auch in dieser
Frage, dem Unrechttun und Unrechtleiden, die nach dem Gesetz gegebene
Antwort des Polos gleich nach der Natur weiterverfolgt.
Denn nach der Natur
ist jedenfalls verwerflicher, was auch nachteiliger ist, das Unrechtleiden,
nach dem Gesetz das Unrechttun. (b) Denn Unrechtleiden passt nicht
zu einem Mann, sondern zu einem Sklaven, der besser tot als lebendig
wäre, der, wenn man ihn misshandelt und bespuckt, sich weder
selber helfen kann noch sonst einem, für den er Sorge trägt.
Nein, ich glaube, Gesetzgeber sind die Masse der Schwächlinge.
Auf ihre Person und ihren Nutzen also schneiden sie die Gesetze zu
und verteilen Lob und Tadel (c) Sie wollen die Starken, die einen
Vorrang einnehmen können, einschüchtern, damit sie vor ihnen
keinen Vorrang haben. Sie behaupten, ein Vorrang sei verwerflich und
ungerecht und in eben dem Versuch, sich vor den anderen einen
Vorrang zu verschaffen, bestehe Unrechttun, Denn sie selbst sind,
glaube ich, als Unterlegene zufrieden, wenn sie gleichgestellt sind.
ἐπεί
- im HS: denn, indes | τὰ πολλά - meistens, in der Regel | ἥ τε φύσις
καὶ ὁ νόμος- Appos. zu ταῦτα | ὑπερωτάω - frage unversehens | διωκάθω
= διώκω |
Interpretationsvorschläge:
Hat Kallikles darin Recht, dass Sokrates (im philosophischen Diskurs) den Standpunkt der Volksmoral vertritt?
Wie verhält sich dazu seine Verurteilung wegen Asebie?
Wird Sokrates die von Kallikles vorgetragene antithetische Gegenüberstellung
von φύσις und νόμος akzeptieren können? In welchem
Sinn wird er andernfalls argumentieren müssen?
Mit welchen dem Text entnommenen Thesen könnte man im einzelnen
das Rechtsverständnis des Kallikles skizzieren?
Recherchieren Sie in der neueren Philosophie die Begriffe "Herrenmoral"
("Sklavenmoral"), "Wille zur Macht"!