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Platon, Politeia

Gedankengang und Aufbauplan
Buch I - X

nach W.S. Teuffel


 

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Überblick:

  1. 1. Hauptteil: Über das Wesen der Gerechtigkeit
    1. Negativ-kritischer Abschnitt: Was Gerechtigkeit nicht ist (Buch I-II)
    2. Positiver Abschnitt: Was Gerechtigkeit ist (Buch II-IV 18):
      1. Das Wesen der Gerechtigkeit im Staat, als dem Menschen im Großen, in welchem sie leichter zu erblicken ist (Buch II-IV 18 (Mitte) = 435a)
      2. Betrachtung der Gerechtigkeit im Menschen (IV 18 (Mitte) = 445)
  2. 2. Hauptteil: Über den Vorzug der Gerechtigkeit an und für sich (bis ende Buch IX
    1. Zwei Exkurse:
      1. Ehe und Kinderzucht in den beiden oberen Ständen; die Ermöglichung der diesbezüglichen Idee durch philosophisch gebildete Regenten (Buch V - VI 15)
      2. Die theoretische und praktische Bildung der Regenten (Buch VI 15 - VIII)
    2. Hauptthema: Der Vorzug der Gerechtigkeit an und für sich.
  3. Abschluss in Buch X
    1. Nachtrag zu Buch III (bis cap.8): Gründe für die Verbannung der nachahmenden Dichtung aus dem Staat
    2. Zusatz (von cap.8 bis Ende X): Der äußere Lohn der Gerechtigkeit.

 

1. Buch:

 

Das Eingangsgespräch:

Polemarchos nötigt Sokrates, sich von der Feier der Bendis im Peiraieus in seine und seines Vaters Kephalos Wohnung zu begeben. Der alte Kephalos lädt in freundlich ein und bittet ihn, ihn doch öfter zu besuchen, weil er wegen seiner Altersschwäche nicht mehr so leicht vom Peiraieus in die Stadt kommen könne. Sokrates findet sich dazu bereit, zumal die Unterhaltung mit betagten Männern ihm sehr wertvoll sei, da man sich bei ihnen über den Weg erkundigen könne, den man vielleicht auch einmal gehen werde. Daran knüpft er unmittelbar die Frage, ob Kephalos das Alter beschwerlich finde. Nicht das Alter an sich, antwortet er, sei eine Beschwerde, sondern die Denk- und Lebensart der Menschen mache es beschwerlich. Über diese Rede erfreut sucht Sokrates ihn zu weiterer Unterredung mit dem Einwurf zu reizen, diese Ansicht vom Alter könne wohl er bei seinem ansehnlichen Vermögen haben, weil dieses ihm viele Beschwerlichkeiten des Alters erleichtere. Kephalos findet diesen Einwand nicht ganz unbegründet, doch sieht er in dem Reichtum keine wesentliche, sondern nur einen sekundäre Ursache eines vergnüglichen Alters; der größte Vorteil des Alters bestehe nämlich darin, dass man die Mitmenschen nicht so leicht belüge und betrüge, dass man keinem Gott eine Opfergabe schuldig bleibe und also im Bewusstsein eines gerechten Lebens dem Jenseits entgegensehen könne, wovor es einem im Alter graue, wenn man auch in der Jugend die Erzählungen die Erzählungen über die andere Welt verlacht habe. Sokrates greift hier die Ansicht des Kephalos von der Gerechtigkeit auf und fragt ihn, ob er wirklich im Sagen der Wahrheit und im Zurückgeben des Empfangenen das Wesen der Gerechtigkeit sehe. Als er dies bejaht, zeigt er ihm an dem Beispiel von dem deponierten Schwert, dass sich diese Definition nicht bewähre. Hierauf entfernt sich Kephalos unter dem Vorwand, das Opfer im Hof besorgen zu müssen. Damit ist das Einleitungsgespräch abgeschlossen und Polemarchos übernimmt die Verteidigung der väterlichen Behauptung.

Hauptgespräch:
  1. Unterhaltung des Polemarchos:
    Polemarchos stützt die These seines Vaters mit einem Spruch des Dichters Simonides, nach dem Gerechtigkeit darin besteht, dass man einem jeden das Schuldige gebe. Nachdem Sokrates die Unbestimmtheit und Einseitigkeit auch dieses Spruches dargetan hat, sieht sich Polemarchos zu der Auslegung genötigt,
    1. Gerechtigkeit sei es, wenn man jedem das ihm Gebührende gebe, d.h. den Fremden Gutes, den Feinden Böses. Dagegen weist aber Sokrates nach:
      1. dass der Gerechte weder im Krieg noch im Frieden geeignet sei, in irgend einer förderlichen Angelegenheit einem das Gebührende zu verordnen oder zu tun, dass er nur in dem Fall, dass etwas still und unbenutzt bewahrt werden soll, nützlich, d.h. dass er nur unnützenden Dingen nützlich sei;
      2. dass sich bei einer konsequenten Verfolgung jener Definition herausstelle, dass die Gerechtigkeit in einer diebischen Verschmitztheit bestehe. Polemarchos gerät bei dieser Demonstration ganz und gar außer Fassung und lässt die Bestimmtheit des Gebührenden fahren.
    2. Er erklärt sich jetzt dahin, dass Gerechtigkeit allein darin bestehen müsse, den Freunden zu nützen und den Feinden zu schaden. Aber auch zu dieser Erklärung legt Sokrates dar, dass sie, konsequent verfolgt, ebenso zum Gegenteil führen könne wie in ihrer vorherigen Gestalt. Nachdem nämlich Polemarchos die für Freunde erklärt hat, die uns gutartig scheinen, und diejenigen für Feinde, die uns bösartig vorkommen, schließt Sokrates: Da unsere Beurteilung dem Irrtum ausgesetzt ist, und da viele unsere Freunde scheinen, obwohl sie in der Tat unsere Feinde sind, und da andererseits viele uns feind zu sein scheinen, obwohl sie unsere Freunde sind, würden wir nach der erwähnten Regel von Gerechtigkeit in diesen Fällen befehlen, den Feinden zu nützen und den Freunden, d.h. Leuten, die kein Unrecht getan haben, Übles anzutun. - Hierauf erklärt Polemarchos das Räsonnement selbst für fehlerhaft und ändert seine Definition auf Suggestion des Sokrates dahin:
    3. Gerechtigkeit bestehe darin, dass man den Ungerechten schade, den Gerechten aber nütze. Sokrates zeigt auf, dass aber auch hier der Fall eintritt, dass alle, die sich in der Beurteilung des moralischen Wertes irren, nach dieser Maxime den Freunden schaden; denn nach ihrer irrtümlichen Meinung sind sie ja lasterhaft; andererseits den Feinden nützen, denn in ihren Augen sind sie ja tugendhaft.
    4. Hierauf sucht Polemarchos endlich seine Behauptung zu retten, indem er den Begriff von Freund und feind präzisiert: Freund soll nicht der sein, der nur Freund zu sein scheint, sondern es wirklich ist, ebenso soll der Feind sein, der Feind scheint und es auch wirklich ist. Die richtige Erklärung der Gerechtigkeit scheint ihm demnach zu sein, dem Freund, der wirklich gut ist, Gutes zu tun und dem Feind, der wirklich böse ist, zu schaden.
      Auf diesen Satz erwidert Sokrates fast auf christliche Weise:
      1. jedes Wesen werde dadurch, dass es beschädigt und misshandelt werde, schlechter, und somit werde auch der Ungerechte noch ungerechter;
      2. der Gerechte aber könne seiner Natur nach und dürfe einen anderen Menschen ebenso wenig ungerechter machen, wie ein Musiker einen andern unmusikalisch mache, wie trocken feucht und warm kalt mache.
        Zum Schluss wird bemerkt, dass die Behauptung, gerecht sei, jedem das Schuldige zu geben, in dem hier angegebenen Sinn eher von einem dummen und geldstolzen Tyrannen als von einem Weisen stammen könne.
  2. Die Unterredung mit Thrasymachos (ab cap.10: 336a ff.):
    Mit Ungestüm und sophistischer Frechheit fällt Thrasymachos über Sokrates her, schimpft und tobt gegen ihn, dass er nur die dialogische Methode beobachte, und dringt in ihn, selbst eine Erklärung von Gerechtigkeit aufzustellen. Sokrates verschanzt sich aber hinter seiner vorgegebenen Unwissenheit, und der Sophist versteht sich nach langem scheinbarem Sträuben zu einer Definition von Gerechtigkeit bereit.
    1. Sie lautet, das Gerechte sei das dem Gewaltigeren Zuträgliche.
      Dagegen erwidert Sokrates:
      1. Unter dieser Definition könne man wegen ihrer Unbestimmtheit an Stelle von Gerechtigkeit ebenso gut ein Stück Rindfleisch verstehen. Hierauf erklärt der Sophist seine Definition so:
        Die jeweilige Staatsregierung verordnet ihren Untergebenen das jeweils ihr Zuträgliche; und dies zu tun heißt für die Untergebenen gerecht; und wer sich diesen Verordnungen widersetzt, wird von der Staatsregierung als Gesetzesbrecher und Unrechtstäter bestraft. Weil aber die jeweilige Staatsregierung die oberste und höchste Gewalt habe, heiße das Gerechte wohl ganz natürlich das dem Gewaltigeren Zuträgliche.
      2. Darauf hält ihm Sokrates zunächst seine Inkonsequenz vor, dass er ihm vorher verboten habe, die Gerechtigkeit als das Zuträgliche zu definieren, und nun selbst diesen Begriff in seiner Erklärung verwende;
      3. dann, dass sich die jeweiligen Machtinhaber als irrende Menschen bisweilen in der Bestimmung ihrer Interessen irrten; in diesem Fall aber heiße die Gerechtigkeit das dem Gewaltigeren Unzuträgliche. Somit sei die Definition unhaltbar.
        Polemarchos bekräftigt diesen Beweis und zeigt dadurch, dass er von seinen früheren Ansichten ganz abgekommen ist.
        Als hierauf Kleitophon , wie es scheint ein Anhänger des Sophisten, zu Gunsten der Behauptung des Thrasymachos allerhand Ausflüchte sucht, weist ihn Polemarchos ordentlich zurecht und vollendet damit die sophistische Niederlage.
        Während dieses Stellvertretergefechts ermutigt sich Thrasymachos wieder, nennt Sokrates einen Schikaneur und reformiert seine Definition von der Gerechtigkeit (cap.14):
    2. Unter dem Regenten sei hier nicht der fehlbare und stümperhafte, sondern im vollkommensten Wortsinn derjenige gemeint, der ohne das geringste Versehen das ihm Zuträgliche verordnen könne. Aber Sokrates überführt den Sophisten durch analoge Demonstrationen, dass jede Kunst im vollkommensten Wortsinn, wie hier der Sophist die Regierungskunst angenommen wissen will, gar kein ihr Zuträgliches bedürfe, eben weil sie ja vollkommen und folglich nicht schadhaft sei, dass sie somit nur das Zuträgliche des ihr Untergebenen besorge, dass also hiernach der Regent im vollsten Wortsinn nicht das ihm, sondern das seinen Untergebenen verordne. - Nachdem Thrasymachos zum zweiten Mal mit Schande abgezogen ist, nimmt er, um den Sieg des Sokrates zu verdunkeln, abermals seine Zuflucht zum Schimpfen und unternimmt einen letzten Rettungsversuch für seine Definition:
    3. Thrasymachos sucht jetzt Vernunftgründe durch Hinweise auf den praktischen Nutzen seiner Definition zu überspielen. Sein alles logischen Zusammenhangs entbehrender Wortschwall reduziert sich hauptsächlich auf zwei Punkte:
      1. Er wirft Sokrates größte Beschränktheit vor, weil er nicht einmal einsehe, dass man Kunst und Wissenschaft des eigenen Vorteils wegen betreibe, dass somit auch der Regent seinen Vorteil, nicht das Interesse seiner Untergebenen besorge.
      2. Endlich erklärt er die Gerechtigkeit für einen Nachteil dessen, der sie ausübt, die Ungerechtigkeit aber für einen Vorteil; die Gerechtigkeit mache ihre Verehrer also im privaten und öffentlichen Leben unglücklich, während die Ungerechtigkeit sie in um so höherem Grad beglücke, je meisterhafter und großartiger sie es verstünden, sie auszuüben und der Strafe des Gesetzes zu entgehen. Der größte Meister in der Ungerechtigkeit sei aber der Tyrann, der ganze Völkerschaften samt ihrer Habe und dem ganzen Land stehle, weswegen er denn auch nicht Schimpf und Schande davontrage, sondern von allen als preiswürdig und glückselig angesehen würde. Hieraus erhelle aber, dass die Ungerechtigkeit viel edler, kräftiger und vornehmer sei als die Gerechtigkeit und dass alle die auf die Ungerechtigkeit schimpften, es nicht aus Scheu vor ihr täten, sondern aus der Furcht, Unrecht zu erleiden.
    4. Erwiderung des Sokrates
      1. Gegen den Punkt A) erwidert Sokrates
        1. Der Sophist habe sich vor allem einer großen Inkonsequenz schuldig gemacht, indem er den Regenten oben (cap.14) im strengsten und vollkommensten Wortsinn angenommen habe, (wonach er nicht sein eigenes Interesse, sonder das der Untergebenen besorge,) ihn aber hier nicht im strengsten Sinn nähme.
        2. Mit jedem Geschäft, also auch mit dem Regierungsgeschäft, könne und dürfe ein Gewinn oder Vorteil verbunden sein; man muss hierbei aber sorgfältig zwischen Wirkung und Folge, oder vielmehr zwischen zwei verschiedenen Wirkungen unterscheiden: Nicht der Gewinn oder Lohn sei der Zweck und die Wirkung der Künste; denn sonst würde es ja nicht verschiedene Künste geben, sondern nur eine. Verschieden voneinander seien die Künste aber nur darum, weil jede von der anderen verschiedene Wirkung hat. In dieser Absicht bewirkt der Künstler aber nicht das ihm, sondern das seinen Untergebenen Zuträgliche, und wenn er zusätzlich noch einen Gewinn erzielt, so bekommt er diesen nicht von dieser Kunst, sondern von einer anderen, die er, wie die meisten Künstler, noch neben seiner eigentlichen Kunst treibt, nämlich der Lohndienerei. Wer aber seine eigentliche Kunst ohne die Lohndienerei, d.h. umsonst, treibt, hat selbst gar keinen Vorteil von ihr, sondern einzig der ihm Untergebene. Dasselbe gilt nun auch von der Regierungskunst, was unter anderem daraus erhellt, dass niemand aus freien Stücken ein Amt bekleiden will, ohne dass er entweder durch Geld oder Ehre oder auch durch die gefürchtete Regierung von den Schlechten dazu bewogen wird. Daher müsse man in einem ganz vollkommenen Staat sich ebenso um das Nichtherrschen streiten wie jetzt um das Herrschen, denn durch das Herrschen lade man sich ja nur Last und Mühe für das Wohl anderer auf, nicht aber für das eigene.
      2. Im Punkt B) verschanzt sich der Sophist (cap.20) hinter der Behauptung, Ungerechtigkeit sei Tugend und Weisheit, Gerechtigkeit aber das Gegenteil.
        1. Sokrates muss also beweisen, dass Gerechtigkeit Weisheit und Tugend, Ungerechtigkeit aber das Gegenteil sei.
          Hier verfährt er so: nachdem ihm der Sophist zugestanden hat, dass einerseits der Gerechte niemals den Gerechten, wohl aber den Ungerechten übertreffen wolle, dass aber andererseits der Ungerechte sowohl den Gerechten als auch den Ungerechten zu überflügeln bestrebt sei, dass als der Gerechte nur den ihm Ungleichen, der Ungerechte aber den ihm Gleichen sowohl als Ungleichen zu übertreffen begehre, zieht Sokrates nun folgenden Schluss: Wenn der Ungerechte verständig und gut oder weise und gut ist, muss er auch dem Verständigen und Guten gleichen und auch so wie der sein, dem er gleicht. Nun aber erhellt aus den Beispielen vom Musiker und Arzt, dass jeder, der in einem Stück kundig, verständig und gut ist, nur den ihm Ungleichen, der Unkundige, Unverständige und Schlechte aber sowohl den ihm Gleichen als auch den Ungleichen übertreffen will. Folglich gleicht der Gerechte dem Kundigen, Wiesen und Guten, der Ungerechte dem Unkundigen und Schlechten, und folglich muss einerseits der Gerechte auch kundig, weise und tugendhaft sein, so wie andererseits der Ungerechte auch unkundig und schlecht sein muss. Somit ist bewiesen, dass die Gerechtigkeit Tugend und Weisheit, die Ungerechtigkeit aber Schlechtigkeit und Unkunde ist.
        2. Daraus folgert Sokrates weiter, dass nur die Gerechtigkeit Stärke und Kraft haben könne, nicht aber die Ungerechtigkeit, wie der Sophist früher behauptete; denn sie sei erstlich eine Unkunde und zweitens lehre die Erfahrung, dass nicht nur jede Korporation, sondern auch jedes Individuum durch Ungerechtigkeit nicht nur mit andern, sondern auch mit sich selbst im Streit liege und nichts Ordentliches zustande bringen könne. Wo aber eine ungerechte Korporation oder Individualität noch etwas ausrichte, da habe diese immer noch einen Funken von Gerechtigkeit, dem allein jene Wirkung zuzuschreiben sei.
        3. Ferner muss der Gerechte mit den Göttern Freund sein, da sie gerecht und gut sind, der Ungerechte aber Feind sein.
        4. Hauptsächlich aber folgt aus a), dass der Gerechte glücklich, der Ungerechte aber unglücklich und elend ist. Denn danach gilt als ausgemacht, dass die Gerechtigkeit eine Tugend oder Vollkommenheit, die Ungerechtigkeit aber ein Laster, Unvollkommenheit oder ein Schaden der Seele ist. Ferner muss eingestanden werden, dass jedes Ding überhaupt seine ihm eigentümliche Funktion am besten und vollkommensten verrichten kann. Folglich kann auch die Seele die ihr eigentümliche Funktion, das Leben, sowie alle geistigen Tätigkeiten nur gut und glücklich mit ihrer Tugend verrichten, schlecht aber, wenn sie schadhaft, d.h. lasterhaft und ungerecht ist.
  3. Würdigung des ersten Buches:
    Am Schluss des ersten Buches bemerkt Sokrates selbst, dass die bisherige Untersuchung keine positiven Aufschlüsse über das Wesen der Gerechtigkeit ergeben habe, sondern ihre Resultate nur negativ oder kritisch seien, d.h. dass sie nur gezeigt habe, was die Gerechtigkeit nicht ist.

2./3. Buch:
1. Werkteil:

Mit dem zweiten Buch beginnt in Platons Politeia, der positive Teil, der allerdings wieder durch einen negativen Vortrag, nämlich durch die zwei Redender Brüder Glaukon und Adeimantos, veranlasst und bestimmt wird.

  1. Glaukon:
    Glaukon bemerkt gegenüber Sokrates, dass seine Überzeugung von der Vorzüglichkeit der Gerechtigkeit nur scheinbar begründet sei und stellt, nachdem er drei Gattungen von Gütern bestimmt hat, Sokrates die Aufgabe, zu beweisen und wahrhaft zu überzeugen, dass die Gerechtigkeit unter jene Gattung von Gütern gehöre, die man nicht wegen ihrer Folgen, sondern wegen ihres eigenen inneren Wertes ohne Rücksicht auf etwaige Folgen begehre. Der Pöbel nämlich rechne die Gerechtigkeit unter diejenigen Güter, die, wie die Arzneimittel, nicht an sich wünschenswert seien, sondern wegen ihrer nützlichen Folgen. Er selbst habe zwar nicht diese Meinung, werde aber oft davon und von Weisheitspredigern wie Thrasymachos oft in seiner besseren Meinung von der Gerechtigkeit irre gemacht. Da sich Thrasymachos zu früh von Sokrates habe einschüchtern lassen, ohne dass die Sache nach seinem Wunsch erschöpft worden wäre, so wolle er noch einmal die Partei des Thrasymachos und dessen Anhänger ergreifen und eine Rede für die Ungerechtigkeit halten, um durch ihre Widerlegung durch Sokrates zu erfahren, was eigentlich die Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit sei und was für eine Wirkung jede von beiden in der Seele habe, abgesehen von allen Belohnungen und sonstigen Folgen. Er bestimmt seine Rede auf zwei Teile und will auf die selbe Weise dann von Sokrates eine Rede für die Gerechtigkeit gegen die Ungerechtigkeit hören.
    Glaukons Rede handelt demgemäß:
    1. von dem Wesen und dem Ursprung der Gerechtigkeit. Hier wird im Sinne jener Tugendverächter dargelegt, dass Unrechttun von Natur aus etwas Gutes, Unrechtleiden aber etwas Übles gewesen sei. Durch die Ohnmacht derjenigen aber, die immer mehr Unrecht hätten leiden müssen als sie hätten antun können, sei durch einen gewissen Vertrag Recht und Gerechtigkeit entstanden, die daher eigentlich ein notwendiges Übel seien (cap.3). Daher übten auch alle sogenannten Gerechten die Gerechtigkeit nicht um ihrer selbst willen, sondern bloß wegen der aus ihr herrührenden Vorteile; und sie gäben deshalb die Gerechtigkeit sofort auf, sobald sie jene Vorteile auch ohne sie erzielen könnten (cap.4).
    2. Das Leben der Ungerechten ist dem der Gerechten vorzuziehen, sowohl bei den Menschen als auch bei den Göttern. Um dies einzusehen, müsse man jeden in seiner größten Vollkommenheit nehmen: man müsse sich einen Ungerechten vorstellen, der bei der größten Ungerechtigkeit den Schein des größten Gerechten habe und bewahre, und einen Gerechten, der bei der größten Gerechtigkeit sein Leben lang den Schein der größten Ungerechtigkeit habe (cap.6).
    Als sich Sokrates hierauf schon zur Gegenrede anschickt, erhebt sich Adeimantos.
  2. Adeimantos:
    Während Glaukon als "advocatus diaboli" die eigentlichen Gerechtigkeitsverächter vertritt, referiert Adeimantos die Gründe der anderen Partei, die die Gerechtigkeit lobt. Aus deren Gründen aber erhellt nichts weniger als die Vorzüglichkeit der Gerechtigkeit vor der Ungerechtigkeit:
    1. denn Eltern und Vormünder loben die Gerechtigkeit und ermahnen dazu ihre Kinder wegen der daraus entstehenden Vorteile bei den Menschen und Göttern und wegen der Vergnügungen in jener Welt (cap.7);
    2. wenn die Dichter die Tugend als etwas Schönes preisen, so bemerken sie dabei auch, dass sie ein mühevolles und lästiges Ding sei; die Schändlichkeit der Ungerechtigkeit bestehe nach ihnen also nur in der öffentlichen Meinung, während sie selbst etwas Süßes und leicht Erwerbbares sei; und die Dichter, jene Lobredner der Tugend, seien am ersten bei der Hand, wo es einen reichen und vielvermögenden Sünder zu preisen gebe;
    3. die Priester und andere Diener der Religion, die doch pflichtgemäß die eigentlichen Wächter sein müssten, sagten außerdem:
      1. dass die Götter vielen Guten Unheil und vielen Schlechten Unglück beschieden,
      2. dass man durch Opfer und Segnungsformeln sowohl die eigene Schuld als auch die der Voreltern austilgen könne,
      3. dass man mit geringen Kosten durch gewisse Bannsprüche die Götter nach seinem Willen lenken und so dem Ungerechten wie dem Gerechten Schaden zufügen könne,
      4. dass es gewisse heilige Mittel sowohl für die Lebenden als auch für die Toten gebe, um begangene Verbrechen auszulöschen (cap.8)
    4. Aus einem solchen Lob der Tugend und aus solchen Lehren müsse eine talentvolle Jugend zu dem Schluss kommen, dass die Tugend ein höchst entbehrliches und mühevolles Ding sei (Anfang cap.9). Und daher könne jemand nur durch ein Wunder der Tugend treu bleiben, und dieser könne es auch die übrige Welt, wenn sie nichts als Sünden und Ungerechtigkeiten beginge, gar nicht verdenken. Denn von allen Lobrednern der Tugend, von den frühesten Zeiten an bis jetzt, habe noch keiner gezeigt, dass die Tugend an sich das höchste Gut sei, und die Ungerechtigkeit das höchste Unheil. Denn wäre diese geschehen, und wäre diese Überzeugung der Jugend beigebracht worden, hätte man dann keine Hüter und Strafgerichte gebraucht, sondern ein jeder hätte sich selbst am meisten vor dem größten Übel, der Ungerechtigkeit, gehütet. So aber, wenn jeder Tugendlehrer bloß den Schein der Gerechtigkeit und die damit verknüpften Folgen lobe, so könne man es der Welt nicht verdenken, wenn sie sich nur jenen Schein aneigne und darunter die vorteilhaftere Ungerechtigkeit treibe. Sokrates wird darum dringend gebeten, jetzt eine bessere Überzeugung von der Tugend zu gewähren (cap.10).
  3. Sokrates:
    Nicht ohne über die Schwierigkeit dieser Aufgabe zu klagen und die anderen um Beistand zu bitten, erklärt sich Sokrates endlich zur Lösung dieser Aufgabe bereit, glaubt aber bei der Erforschung des Wesens der Gerechtigkeit so verfahren zu müssen, wie Leute, die mit schlechter Sehkraft zwei Schriften in der Ferne lesen sollen, die eine mit kleinen, die andere mit großen Buchstaben. Wie diese zuerst die Schrift mit den großen Buchstaben lesen würden und zu erkennen suchten, um dann den Sinn der kleineren um so besser zu finden, so wolle auch er das Wesen und den Ursprung der Gerechtigkeit zuerst im Staat erforschen und dann auch im menschlichen Individuum.
    1. Daher folgt (ab cap.11) eine Darstellung vom Ursprung und der Gestaltung des Staates, der aus den menschlichen Bedürfnissen erwächst und auf dem Grundgesetz beruht, dass jeder Bürger die Vielbeschäftigung vermeidet und allein das Geschäft betreibt, zu dem er die meisten natürlichen Anlagen hat.
      1. Ab Mitte cap. 13 wird der ganz einfache und natürliche Staat errichtet, d.h. der Staat, in dem sich die Bürger ihre notwendigen Naturbedürfnisse wechselseitig befriedigen. Von hier aus wird sodann der Staat in seiner Üppigkeit als Wohlstandsstaat dargestellt. Als solcher läuft er wegen seines unnatürlichen und ungleichen Verhältnisses zu Nachbarstaaten in Gefahr, mit Krieg überzogen zu werden oder selbst Krieg führen zu müssen. Es muss daher infolge des Grundgesetzes, dass jeder nur ein Geschäft betreiben soll, neben jenem Nährstand noch ein zweiter Stand eingeführt werden, nämlich der Wehr- oder Soldatenstand.
      2. Der Wehr- oder Soldatenstand bewacht und beschützt den Staat nach außen und innen (cap.15). Bei der Auswahl der zu diesem wichtigen Amt tauglichen Individuen befolgt Sokrates das Beispiel eines erfahrenen Schäfers oder Hirten bei der Auswahl der Hunde, die die Herde beschützen und bewachen sollen. Sokrates verlangt daher bei der Auswahl seiner Staatswächter:
        1. körperliche Vorzüge, sowie die zusätzlich erforderliche psychische Eigenschaft, d.h. ein zornmütiges, feuriges und mutiges Naturell.
        2. geistige Vorzüge: Weil sie bei diesen körperlichen und psychischen Eigenschaften ebenso ihren Mitbürgern wie den Feinden gefährlich werden können, müssen sie einen bestimmten Grad von Bildung (παιδεία) bekommen, besonders ein philosophisches oder lernbegieriges Talent haben (cap.17).
        Diese Bildung besteht nun nach griechischem Herkommen in musischer oder geistiger Bildung (Musik in weiterem Sinn) und in Gymnastik, wovon jene für die Bildung der Seele und des Geistes, diese für die des Körpers bestimmt ist.
        1. Musik in weiterem Sinn begreift aber nun
          1. die sprachliche Musenkunde. Diese ist nun wieder entweder wahre (philosophische) oder dichterische. In Bezug auf die letztere, die in Griechenland zum Nachteil der Moral stark ausgeartet war, werden nun folgende Regeln gegeben, wobei die grob sinnlichen Darstellungen Homers, Hesiods und anderer Dichter einer strengen Kritik unterworfen werden:
            1. Regeln in Bezug auf die Erzählungen und Dichtungen von den Götter, Dämonen, Heroen und der anderen Welt (Mitte cap.5 des 3. Buches.)
            2. Regeln in Bezug auf moralische Lehren und Vorschriften für die Menschen. Hier wird unterschieden zwischen
              1. Inhalt: Dieses Kapitel kann aber erst abgehandelt werden, nachdem das Wesen der Gerechtigkeit gefunden ist, und wird deswegen verschoben (auf den Anfang des 10. Buches)
              2. Form der Darstellung: Nur diejenige wird gestattet, die ohne alle dramatische Nachahmung ist (cap.10).
          2. Die Tonmusenkunst oder Musik in engerem Sinn: Ihre Bestandteile sind Text, Tonart oder Harmonie und Takt, worüber in gleicher Weise, jedoch nur flüchtig, die geeigneten Vorschriften gegeben und die damals hierin herrschenden Fehler und Missbräuche gerügt werden. Aber nicht nur die Musik, sondern alle schönen Künste müssen unter einer Kontrolle stehen, weil der Sinn für das Schöne die Quelle jeder höheren Bildung (Philosophie) ist und daher darüber gewacht werden muss, dass jener nicht durch schlechte Kunstdarstellungen verdorben wird (cap.13).
        2. Die Gymnastik, das körperliche Bildungsmittel, das auch die Diätik begreift, wird anschließend (bis cap.19) behandelt. Übrigens muss die Bildung der Seele und des Körpers harmonisch sein und keine darf auf Kosten der anderen gebildet werden. Es folgt:
      3. Die Einführung des dritten Standes unseres Staates, nämlich die Einsetzung der Regenten oder Staatsoberhäupter. Diese werden aus den Wehrmännern gewählt; sie müssen davon die ältesten und besten sein, die von Jugend auf das Wohl des Staates am meisten gesucht und seine Nachteile gemieden haben; sie müssen ferner von Jugend auf die Probe bestanden haben, dass sie sich ihre Grundsätze nicht nehmen lassen
        1. durch Entwendung, d.h. durch Länge der Zeit oder durch falsche Lehren;
        2. durch Gewalttätigkeit, d.h. durch Wehen und physische Schmerzen;
        3. durch Verblendung, d.h. durch die Reize der sinnlichen Lüste.
        Diese hier bloß nach einer flüchtigen Bestimmung ausgewählten Staatsoberhäupter (ausführlicher ab Buch VI, cap.15) heißen jetzt vorzugsweise Staatshüter, während die Wehrmänner nun Soldaten oder Gehilfen der Staatshüter heißen, weil sie helfen müssen, deren Befehle und Verordnungen auszuführen (cap.21).- Zur Erhaltung dieses Staates soll den drei Ständen die Fabel beigebracht werden, dass sie aus Erde geboren, und die Seelen der Regenten aus Gold, die der Soldaten aus Silber und die des Nährstandes aus Eisen oder Erz geschaffen seien. Diese drei Stände sollen keine geschlossenen Kasten bilden, sondern wenn in dem eisernen Stand eine silberne oder goldene Seele entsteht, soll sie hinaufbefördert werden, und wenn in dem goldenen oder silbernen eine silberne oder eiserne geboren wird, muss sie in den Stand hinabversetzt werden, zu dem sie von Geburt bestimmt ist.(cap.22). Am Schluss des 3. Bucheswerden noch Vorschriften über den Wohnort, die Lebensart usw. der beiden oberen Stände gegeben: sie sollen zusammen wohnen, ihren Lebensunterhalt von dem untersten Stand erhalten und kein Eigentum, weder Gold noch Silber, besitzen

4./5. Buch:

 

Vom Anfang des 4. Buches an werden etwaige Einwände gegen die bisherigen Einrichtungen des Staates entkräftet:

  1. Der Wächter- und Soldatenstand darf mit dieser Einrichtung zufrieden sein. (cap.2)
  2. Reichtum sowohl wie Armut verderben jeden Künstler, also auch unsere Hüter und Wehrmänner.
  3. Unser Staat braucht einen Kampf mit einem reichen und großen Staat nicht zu fürchten, solange er seine Einheit und Harmonie bewahrt (cap.3).
    Diese Einheit wird erhalten, wenn
    1. der Staat sich nur so weit vergrößert, dass dadurch seine Einheit nicht gefährdet wird;
    2. jeder im Staat die Stelle bekommt, zu der er seiner natürlichen Anlage nach geeignet ist;
    3. die beiden oberen Stände Weiber und Kinder gemeinschaftlich haben;
    4. die Verfassung beibehalten wird; dies geschieht aber durch Aufrechterhaltung der oben genannten Bestimmungen über die beiden Hauptbildungs- und Erziehungsmittel, über Musik im weiteren Sinn und Gymnastik. Durch eine gute Erziehung ist der Staat dann der Menge Gesetze und Verordnungen überhoben, durch die schlecht eingerichtete Staaten den kranken Körper vergebens zu kurieren suchen. - Die religiösen Bestimmungen werden von der jeweiligen Eigentümlichkeit eines Landes abhängig erklärt und daher übergangen (cap.6).

Nachdem also ein Staat oder der Mensch im Großen dargestellt ist, wird nun in ihm das Wesen und die eigentliche Natur der Gerechtigkeit und der Ungerechtigkeit erforscht. Wenn unser Staat richtig und vollkommen aufgeführt sei, müsse er auch die vier Charaktere einer jeden Vollkommenheit besitzen, nämlich Weisheit, Tapferkeit, Mäßigkeit und Gerechtigkeit. Wenn die drei ersten gefunden sind, ergibt sich dann die Erkenntnis der Gerechtigkeit von selbst.

  1. Die Tugenden im Staat:
    1. Weise ist der Staat, sofern er zu beraten weiß, wie er sich sowohl gegen sich selbst als auch gegen andere Staaten am besten zu betragen habe; da dies nur durch die Staatshüter geschieht, ist Weisheit nur das Eigentum eines, und zwar des kleinsten Standes (cap.7).Die
    2. Tapferkeit besteht in der Aufrechterhaltung der Meinung über das Furchtbare, die vom Gesetz durch Erziehung eingeflößt wurde. Sie ist gleichfalls Eigentum nur eines Standes, nämlich des Wehrstandes (cap.8).
    3. Mäßigkeit und Besonnenheit besteht in der naturgemäßen Übereinstimmung der Schlechteren und der Besseren in Bezug auf die Frage, welche die Oberhand haben müssen, und ist somit Eigentum aller Stände.
    4. Schließlich die noch fehlende Tugend, die Gerechtigkeit: Sie besteht darin, dass jeder in dem Stand und Geschäft, zu dem er nach seinen Anlagen geeignet ist, seine Schuldigkeit tut und die Vielgeschäftigkeit vermeidet. Geschieht dies nicht, drängen sich Menschen ohne die dazu gehörigen Fähigkeiten und Übungen in einen der beiden oberen Stände, und werden die zum Herrschen geschaffenen goldenen und silbernen Seelen von den für sie passenden Stellen verdrängt, so erfährt der Staat dadurch das größte Unheil und die größte Übeltat, d.h. er ist mit Ungerechtigkeit behaftet. -
  2. Die Gerechtigkeit im Individuum:
    1. Nachdem das Wesen der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit im Staat erforscht und geschaut ist, folgt ab Mitte cap.11 die Betrachtung des Wesens und der Natur der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit im menschlichen Individuum. Dieses kann nur auf die selbe Weise gerecht sein wie der Staat, nämlich dadurch, dass, wie der Staat drei Stände, so der Mensch drei verschiedene Seelenvermögen besitzt: Vernunft, Mut oder Zornesmut und Begehrlichkeit. (Dies wird zunächst nur empirisch-psychologisch untermauert, in Buch VI cap.16 metaphysisch bewiesen).
      1. Die Gerechtigkeit im Individuum besteht ebenfalls darin, dass jedes der drei Seelenvermögen das von der Natur ihm angewiesene Geschäft verrichtet und nicht das Amt des anderen usurpiert, dass also das Vernunftvermögen regiert, der Zornmut - nach empfangener Bildung durch Musik (in weiterem Sinn) und Gymnastik - die Vernunft bei ihren Verordnungen unterstützt, und dass endlich die Begierden sich jenen Verordnungen gehorsam fügen. Der einzelne Mensch ist auf die selbe Art wie der Staat besonnen oder mäßig, tapfer und weise (cap.18).
      2. Die Ungerechtigkeit besteht beim Individuum gleichfalls darin, dass die drei Seelenvermögen ihre Tätigkeit untereinander verwechseln, wodurch Verwirrung und Empörung entsteht. Die Ungerechtigkeit gleicht also einer zerstörenden Krankheit, die Gerechtigkeit aber der Gesundheit; ebenso gleichen ungerechte Handlungen ungesunden und giftigen Nahrungsmitteln, die gerechten gesunden (Mitte cap.18).

Damit ist der erste Teil der Aufgabe unseres Werkes (vgl. die Rede Glaukons am Anfang des 2. Buches), nämlich nach dem Wesen und der eigentümlichen Natur der Gerechtigkeit beendet.

2. Werkteil:
>Mit der Mitte des 18. cap. des 4. Buches (445a) beginnt nun der zweite und letzte Hauptteil, nämlich die Frage, ob man bei gewissenhafter Ausübung der Gerechtigkeit auch seinen Vorteil findet, möge man dabei nun erkannt oder verkannt werden; oder ob man ihn eher durch die Ungerechtigkeit finde, wenn man sich nur nicht ertappen ließe. Diese zweite, zum Teil schon aus dem Gesagten beantwortete Hauptfrage des ganzen Werkes sucht nun Sokrates noch bestimmter auf die selbe Weise zu lösen, wie er die erste gelöst hat. So wie er das Wesen der Gerechtigkeit fand, indem er einerseits einen vollkommenen Staat, andererseits aber einen vollkommenen Menschen hinstellte, so will er auch nun beweisen, ob die Gerechtigkeit glücklich oder nicht glücklich sei, indem er wieder einerseits den vollkommenen oder gerechten Staat und den vollkommenen und gerechten Menschen hinstellt, andererseits die unvollkommenen und ungerechten Staaten und Menschen (denn das Vollkommene ist überall nur eines, vom Schlechten gibt es aber unzählige Abstufungen). Der vollkommene oder gerechte Staat und Mensch ist aber bereits aufgestellt; es müssen also nun zum Vergleich daneben die unvollkommenen und ungerechten gestellt werden. Da es von diesen aber eine unzählige Menge gibt, beschränkt sich Sokrates hinsichtlich der ungerechten Staaten auf die vier Hauptarten: die Timokratie, Oligarchie, Demokratie und despotische Tyrannei; und hinsichtlich der ungerechten Menschen auf die entsprechende gleiche Anzahl. Als sich Sokrates schon anschickt, diese vier Hauptarten von Ungerechtigkeit auszuführen, da wird er am Anfang des 5. Buches von Polemarchos und Adeimantos unterbrochen und aufgefordert, die oben flüchtig aufgestellten Verordnung von der Weiber- und Kindergemeinschaft näher zu erörtern und zu begründen, da sich diese so paradoxe Anordnung keineswegs von selbst verstehe, wie er glaube.
1. Exkurs:

Zwischen den ersten und zweiten Hauptteil unseres Werkes wird deswegen ein Exkurs eingeschoben:

  1. Die nähere Darstellung von den Ehen und der Kinderzucht des Soldaten- und Regentenstandes.
    Mit seiner gewohnten Schüchternheit geht Sokrates an seine Aufgabe, indem er befürchtet, dass seine Ansicht hierüber sowohl hinsichtlich der Möglichkeit als auch ihres Vorteils keinen Glauben finden werde. Außerdem glaubt er, die Sache noch nicht gehörig durchdacht zu haben. Nach allseitiger Ermunterung fängt er dann mit der Lösung seiner Aufgabe an, indem er hier sich wieder von dem Gleichnis mit den Schäfer- und Hirtenhunden leiten lässt.
    1. Wie es nämlich nicht gegen die Natur ist, dass die Schäfer die weiblichen Hunde zu dem selben Geschäft gebrauchen wie die männlichen, so sollen auch die Weiber unserer Staatswächter und Hüter mit den Männern an den selben Geschäften teilnehmen; daher müssen sie auch die selbe wissenschaftliche und gymnastische Bildung und Erziehung erhalten und durch eine gleiche Auswahl ausgesucht werden.
      Denjenigen, die es für besonders lächerlich halten, dass die Weiber mit den Männern entblößt gymnastische Übungen vornehmen sollen, wird entgegnet, dass die Hellenen ursprünglich, wie alle Barbaren, das Nackte für unehrbar hielten, sich aber nachher so daran gewöhnt hätten, dass sie das ängstliche Verhüllen de Körpers als ein Zeichen der Barbarei ansahen; dass ferner eigentlich nichts lächerlich sei als nur das Laster (cap.4). Anschließend beweist Sokrates , dass die Verordnung, gemeinschaftlich Geschäfte zu verrichten,
      1. möglich sei, weil die weibliche Natur zwar etwas schwächer sei, sich aber sonst von der männlichen nicht wesentlich unterscheide (cap.6), und
      2. für den Staat auch am vorteilhaftesten und vorzüglichsten sei (cap.7)
    2. Alle Hüter und ihre Helfer (Soldaten) sollen die auf die selbe Weise ausgewählten und gebildeten Weiber gemeinschaftlich nehmen und haben, und kein Weib soll für sich allein mit einem Mann zusammenwohnen. Ferner sollen auch die Kinder gemeinschaftlich sein, so dass die Eltern ihre eigenen Kinder und die Kinder ihre eigenen Eltern nicht kennen. Um diese Anordnung zu rechtfertigen, soll wieder ihre Möglichkeit und Vorteilhaftigkeit nachgewiesen werden.
      1. Die größte Vorteilhaftigkeit und Vorzüglichkeit dieser Anordnung wird erst cap. 14 erwiesen. Voraus geht (cap. 10). ihr Plan und ihre Einrichtung.
      2. Die Demonstration ihrer Möglichkeit folgt nach, weil sie hier teils schwer ist, teils weil sie eher mit dem Folgenden zusammenhängt. Aber in verstellter Furcht vor der Demonstration dieser Möglichkeit stellt sich Sokrates an, als wolle er sie verschwätzen, und gibt von cap.14-17 noch eine ziemliche Anzahl von Vorschriften, wie man die jungen Hüter und Hüterinnen des Staates für das Kriegswesen anleiten müsse. Indessen wird Sokrates cap.17 von Glaukon ernstlich ermahnt, mit der lang verschobenen Demonstration zu beginnen. Sokrates bemerkt nun zuvor noch, man dürfe nicht verlangen, dass ein in der Theorie aufgestelltes Ideal ganz in der Wirklichkeit erscheinen müsse, und behauptet sodann (cap.18), jene Möglichkeit sei doch gegeben, wenn einmal Philosophen die Staaten regierten, oder wenn deren Regenten philosophierten; zuvor würden weder die Staaten Heil und Befreiung von ihren Übeln erfahren, noch würde man den oben aufgestellten idealen Staat realisiert sehen, wenn nicht jenes Ereignis eingetreten sei.
      Als hierauf alle Anwesenden diese Behauptung noch viel unglaublicher finden als die Möglichkeit, die er durch sie bedingen will, sucht sie Sokrates nun näher zu begründen,
      1. indem er eine Beschreibung der echten Philosophie hinstellt und den Unterschied zur unechten angibt. Jene beschäftigt sich mit der Erkenntnis des wahrhaft Seienden der Dinge, der intellektuellen Gesetze der Sinnenwelt oder der Ideen, während sich letztere nur mit der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen abgibt und daher keine Einsicht und Wissenschaft, sondern nur eine unsichere Meinung gewährt (Ende 5. Buch)
      2. (6. Buch) indem er sodann die Eigenschaften aufzählt, die er von einem echten Philosophen verlangt, worauf ihm alle bei seinem Schluss beistimmen müssen, dass erstens solche befähigten Männer mit der theoretischen Einsicht auch praktische Gewandtheit verbinden können, und dass daher zweitens nur diese die Staaten regieren dürften (cap.3)

 

6. Buch:

 

Hierauf wendet ihm Adeimantos abermals ein: wenn Sokrates hier auch durch logische Kunst einen theoretischen Beweis für seine Behauptung aufgestellt habe, wogegen man nichts einwenden könne, so müsse man doch das Gegenteil glauben, wenn man in die Wirklichkeit schaue, die lehre,
  1. dass alle, die sich etwas mehr als für den gewöhnlichen Notbedarf und professionell mit der Philosophie abgeben, wenn nicht ganz verdorben, so doch überspannte Menschen würden;
  2. dass die ersten und größten Philosophen für Staatsgeschäfte ganz unbrauchbar würden.
Hiergegen zeigt nun Sokrates:
  1. Wenn die größten und berühmtesten Philosophen unbrauchbar seien, so sei daran nicht die Philosophie schuld, sondern der Unverstand des politischen Publikums (cap.5).
  2. nach den gegenwärtigen Verhältnissen sei es eine unbedingte Notwendigkeit, dass die meisten Zöglinge der wahren Philosophie verdorben seien, dass aber an dieser Verdorbenheit nichts weniger schuld sei als die Philosophie; denn aus dem bereits aufgestellten Ideal vom wahren Philosophen, an das hier (cap.6) noch einmal kurz erinnert wird, erhellt, dass die zur wahren Philosophie geeigneten Naturen ohnehin in höchst geringer Zahl geboren werden; so gehen diese größtenteils zu Grunde
    1. in Folge ihrer geistig edlen Natur selbst, weil in der ganzen Natur jedes Wesen desto mehr der Verderbnis ausgesetzt ist, je edler und vorzüglicher seine Natur ist;
    2. in Folge der sogenannten irdischen oder leiblichen Vorzüge, nämlich Reichtum, Schönheit, vornehme Geburt usw. Die das Verderben bewirkenden Einflüsse kommen teils und vorzüglich aus der Verdorbenheit des öffentlichen politischen Treibens, teils aus dem Unterricht der Sophisten, der nichts anderes ist als ein in wissenschaftliche Form gebrachter Reflex der verdorbenen öffentlichen politischen Volksmeinung. (cap.9).
  3. Wenn also die Philosophie ihrer ebenbürtigen, ohnehin schon wenigen Liebhaber beraubt werde, so drängten sich ihre unberufenen Liebhaber auf, die sie nicht wegen ihrer selbst suchen, sondern des Gewinns und der Ehre wegen, da die Philosophie trotz aller Verachtung doch noch mehr Ehre gebe als jede andere Profession. Hieraus sei leicht abzulesen, dass solche Philosophen von Profession sowohl durch ihre philosophischen Produkte als auch durch ihr Betragen ihr nichts als Schande machen und sie in den Augen des Volkes in einen bösen Ruf bringen müssten (cap.10).
  4. Demnach bleiben nur ganz wenige wahre philosophische Naturen übrig, und zwar nur solche, die entweder durch ein Wunder oder besonderen Zufall gerettet würden. Haben diese aber die Süße des spekulativen Lebens einmal gekostet, so wollen sie sich nicht wieder von ihm trennen und finden sich nicht bereit, ihr edles Leben nutzlos im politischen Treiben zu vergeuden (cap.11).
Nachdem Sokrates so alle Zweifel gegen die Behauptung beseitigt hat, wodurch er eben die Möglichkeit unserer idealen Staatsverfassung überhaupt und insbesondere die der Weiber- und Kindergemeinschaft bedingte, so zeigt er nun die Art und Weise der möglichen Verwirklichung.
Dazu ist erforderlich, dass die philosophischen Naturen in einem Staat erzogen werden, der von den jetzigen ganz verschieden ist, und dass die Philosophie auf eine ganz andere Weise getrieben wird als heutzutage; dann werde das gemeine Volk auch eine ganz andere Ansicht von der Philosophie bekommen (cap.14).
Die mögliche Verwirklichung unserer idealen Staatsverfassung überhaupt und insbesondere die der Bestimmungen über Ehen und Kindererziehung bei den (zwei) oberen Ständen beschränkt sich daher endlich auf den Fall, dass Fürstensöhne einmal mit philosophischen Anlagen geboren würden und dass sie dieselben mitten durch die oben erwähnten schädlichen Einflüsse retten und zur vollständigen Reife heranbilden.
Hat daher jene Verwirklichung allerdings ihre Schwierigkeiten, so liegt sie doch nicht im Bereich des Unmöglichen, d.h. sie ist möglich (cap.15).
2. Exkurs:
  1. Hieran knüpft sich nun die andere Episode oder der zweite Exkurs an, der sich um die Frage dreht, durch welche Bildungsmittel die besagten philosophischen Regenten erzielt werden sollen. Dieser Exkurs hängt nicht nur mit dem vorigen auf das engste zusammen, sondern bildet auch eine Ergänzung zu III 19-21, wo die Einsetzung der Staatsregenten schon zum Teil, aber, wie dort (cap.20) ausdrücklich bemerkt wird, nur flüchtig erörtert wurde, indem es sich dort nur darum handelte, einen Staat nah seinen gröbsten Umrissen hinzustellen, um darin (als dem Menschen im Großen) besser das Wesen der Gerechtigkeit sehen zu können. Jene Frage beantwortet nun Platon.
    Nach einer kurzen Erinnerung an die schon III 15-17 geforderten körperlichen und geistigen Eigenschaften eines künftigen Regenten in seinem moralischen Staat macht er vor allem die Bemerkung, dass diese sich leider höchst selten in einem Individuum beisammen vorfinden, wohl aber unter verschiedenen Individuen zersplittert. Die geistreichen Menschen haben gewöhnlich einen wandelbaren moralischen Charakter, die starken zuverlässigen dagegen sind zu phlegmatisch und zu einer höheren wissenschaftlichen Bildung unfähig. Beide Eigenschaften muss aber einer unbedingt haben, wenn er ein Regent in unserem Staat werden will.
    Die III 19-21 aus den Staatswächtern ausgewählten Kandidaten der Regierung müssen ihre Befähigung außer in den dort erwähnten Proben, die doch mehr körperlicher Art waren, auch noch durch eine wissenschaftliche beweisen, d.h. beim Unterricht in vielen wissenschaftlichen Disziplinen beobachtet werden, ob sie die wichtigsten (metaphysischen) Wahrheiten zu ertragen im Stande sind. Auf die Frage, was für Disziplinen oder Lehrgegenstände dies seien, macht Sokrates (von cap.16) zunächst die Bemerkung, dass die obige Theorie von der menschlichen Seele und die darauf gebaute Lehre von Gerechtigkeit, Besonnenheit usw. (IV 11-18) zu kurz und nicht gründlich genug gewesen sei, wie damals schon bemerkt worden sei; sie gründlicher kennen zu lernen, gebe es, wie gleichfalls damals erwähnt, einen anderen, aber größeren und beschwerlicheren Weg, der auf jeden Fall von unseren künftigen Regenten, von denen so vieles abhänge, eingeschlagen werden müsse, nämlich den zur Erkenntnis der größten Wissenschaft, d.h. des eigentlichen Guten; denn ohne Erkenntnis des eigentlichen Guten ist alles Wissen und Treiben nutzlos und eitel, sowie die Ausübung der wahren Tugend und Gerechtigkeit unmöglich (cap.17).
    Nach dieser Bemerkung und nach einer in cap.17 angestellten Kritik der beiden damaligen extremen Lehren vom höchsten Gut, wovon die eine (Aristippos) es im sinnlichen Vergnügen, die andere (Antisthenes) in der vernünftigen Einsicht erblickte, folgt der Rest des Exkurses in zwei Abschnitten:
    1. Platons eigene Lehre vom höchsten Gut, besonders in ihrem Verhältnis zur Welt und zur menschlichen Seele. Dieses Gute, das der metaphysische Kern nicht nur dieses Werkes, sondern der ganzen platonischen Philosophie ist, wird mit jenem, dem platonischen Sokrates eigentümlichen Sträuben und mit kurzer Erinnerung an die eben schon (Buch V) erwähnte und in anderen Werken Platons erörterte Unterscheidung zwischen sinnlich und vernünftig erkennbaren Objekten, so wie zwischen sinnlicher und intellegibler Erkenntnis unter dem Bild der Sonne dargestellt und erläutert (von cap.16 bis zum Ende des 6. Buches). Das Gute ist nämlich erstlich in der ideellen oder intellegiblen Welt gerade das, was die Sonne in der sichtbaren ist; ferner steht das Sein in der intellegiblen Welt zum Guten in der Selben Beziehung, wie das Sein der sichtbaren Welt zur Sonne; drittens endlich ist die Vernunft im Intellegiblen das, was das Auge im sichtbaren ist. Wie nämlich die Sonne in dem Reich des Sichtbaren nicht nur die Ursache alles Lebens ist, sondern auch die Bedingung dafür, dass das Auge sehen kann und die sichtbaren Dinge gesehen werden können, so ist auch das Gute nicht nur die Quelle alles Seins, sondern auch die Bedingung dafür, dass die Vernunft erkennen und das wahre Sein der Ideen erkannt werden kann. Wie sich uns ferner die sichtbare Welt unter zwei Gestalten zeigt, nämlich erstlich als Bilder von Gegenständen, d.h. als Schatten und Spiegelungen in Spiegelflächen, und zweitens als wirklich reelle Gegenstände, so zeigt sich uns die Welt des intellegiblen Seins erstens als allgemeine Formen des wirklich Seienden und zweitens als reines Sein; drittens endlich: so wie das Auge und der Gesichtssinn etwas Sonnenartiges, aber doch selbst keine Sonne ist, so ist auch die Vernunft und die wissenschaftliche Erkenntnis des Wahren (Wissenschaft) etwas Großartiges und etwas sehr Vortreffliches, aber das Gute selbst ist sie nicht, das alles an Hoheit überstrahlt.
    2. Also zerfällt das große Gebiet alles Seins in zwei große Hälften: erstens in das sichtbare und zweitens in das durch die Vernunft erkennbare Sein, und jede dieser Hälften zerfällt wieder in zwei (un)gleiche Teile oder Abschnitte, so dass wir vier Glieder bekommen: 1. Bilder, 2. wirkliche (sinnliche) Gegenstände, 3. (intellektuelle) allgemeine Seinsformen, 4. reines Sein. Diese stehen in Bezug auf die Realität und Wahrheit ihres Seins in einem proportionalen Verhältnis: Wie sich nämlich die Bilder zu ihren wirklichen Gegenständen verhalten, so verhalten sich die allgemeinen Seinsformen zu dem reinen sein; ferner: wie die Bilder (Schatten und Spiegelungen) sich zu ihren wirklichen Gegenständen verhalten, so verhält sich das ganze sichtbare Sein (d.h. Bilder und wirkliche sichtbare Gegenstände) zu dem ganzen durch die Vernunft erkennbaren Sein (d.h. allgemeine Seinsformen und reines Sein). -
      Das selbe Wechselverhältnis findet nun auch bei den Wirkungen des Schauens auf jene vier Arten von Sein statt: 1. Das Schauen des Auges einerseits auf die Bilder bewirkt einen Schein von Wahrheit, d.h. Wahrscheinlichkeit, 2. auf die wirklichen Gegenstände gerichtet bewirkt es zuverlässiges Zutrauen auf den Bericht dieses Sinnes, d.h. Glauben; 3. das Schauen der Vernunft dagegen bewirkt in seiner Richtung auf die allgemeinen Seinsformen (d.h. als Mathematik) nur eine Verstandeseinsicht, 4. in der Richtung aber auf das reine Sein, bewirkt es Vernunfteinsicht. Diese beiden Richtungen unterscheiden sich dadurch, dass die Vernunft bei der ersteren sich zu ihrer Demonstration noch sinnlicher Formen bedienen muss, von unerwiesenen Voraussetzungen ausgeht und nur auf die logisch intuitive Demonstration eines bestimmten Zieles hineilt, während sie sich bei der letzteren aller sinnlicher Anschauungen entledigt, auf keine unerwiesenen Behauptungen baut und das reine Sein und das Wahre bloß mit Hilfe reiner Begriffe logisch diskursiv demonstriert. Wie Wahrscheinlichkeit sich zu Glauben verhält, so verhält sich Verstandeseinsicht zu Vernunfteinsicht, und die Klarheit dieser vier Seelenzustände verhält sich ebenso wie die Realität der vier Arten von Objekten, durch deren Betrachtung sie gewonnen werden. Wahrscheinlichkeit und Glauben werden unter dem allgemeinen Namen Meinung (bloß empirische Erkenntnis), Verstandes- und Vernunfteinsicht aber unter dem allgemeinen Begriff rationale oder Vernunfterkenntnis begriffen; und die Meinung steht zu der rationalen Erkenntnis in dem selben Verhältnis, in dem Wahrscheinlichkeit zum Glauben steht.

7. Buch:

 

  1. Nach Darstellung der Lehre von dem Guten und dessen Verhältnis zur Welt und zum Menschen, die das eigentliche Objekt der philosophisch wissenschaftlichen Bildung unserer künftigen Regenten ist, beginnt nun (mit dem Anfang des 7. Buches) diese Bildung selbst (und bildet bis zum Ende des Buches den zweiten Abschnitt des 2. Exkurses).
    Auch diese Bildungsweise, die einen theoretischen und einen praktischen Teil hat, wird durch ein Bild erläutert, das mit jenen vorhergehenden der Sonne und der Linie verwandt und gewissermaßen ihre Fortsetzung ist. Unsere oben (im 3. Buch) ausgewählten Regierungskandidaten gleichen, wie alle Menschen, bevor sie in die höheren Wahrheiten der echten Philosophie eingeweiht sind, Gefangenen, die in einem unterirdischen Kerker von folgender Art eingeschmiedet sind:
Schema zu Platons Höhlengleichnis
  • abcd - Kerker
  • bc - Wand, auf die die Schatten der auf dem Querweg (hi) vorbeigetragenen Gegenstände projiziert werden
  • ad - Offene Wand im Rücken der Gefangenen und Beginn des Aufstiegs
  • e - Höhlenausgang in die Oberwelt
  • o - Feuer als Lichtquelle
  • hi - Querweg auf dem Menschen Gegenstände tragen
  • kl - Mauer zur Abdeckung der Menschen

Man denke sich einen tief in der Erde gelegenen quadratförmigen Kerker abcd; unsere Gefangenen sitzen darin nun so gefesselt, dass sie nur die Wand bc anschauen und weder rechts noch links ihren Kopf umdrehen können. Die sich ihnen im Rücken befindende Seite ad muss man sich dann in ihrer ganzen Länge und Höhe als die einzige Öffnung dieses Kerkers denken, die sich immer mehr verengt und immer steiler nach oben geht, bis sie etwa in Form einer Kelleröffnung, durch die ein Mensch noch gebückt gehen kann, bei e in die Oberwelt führt. In diesem steilen Gang nach oben denke man sich ferner, etwa in der Richtung fg, ein Licht oder Feuer o, so dass durch dieses von fern und obenher die Wand bc beleuchtet wird. Zwischen diesem Feuer und den Gefangenen befindet sich, aber höher als sie sitzen, etwa in der Richtung hi ein Querweg, auf dem Menschen Bildnisse von Menschen, Tieren usw. hintragen, indem, wie natürlich, einige sprechen, andere schweigen. Neben diesem Weg führt sich auf der Seite zu den Gefangenen eine Mauer kl hin, die die Höhe eines Menschen hat und bewirkt, dass die Gefangenen an der Wand bc nur die Schatten sehen können, die von den auf dem Weg hi getragenen Bildern und Gerätschaften geworfen werden, nicht aber die Schatten der Träger selbst.
Einen Gefangenen nun von dieser Art, der natürlich die an der Wand bc vorüberschwebenden Schatten jener Bilder für wirkliche Gegenstände hält, darf man nicht so von seinem Wahn heilen wollen, dass man ihn entfesselt und nötigt, plötzlich aufzustehen, herumzugehen und in das Höhlenlicht zu schauen, oder dass man ihn sogar mit Gewalt aus dem unterirdischen Kerker den steilen Weg hinauf in das Licht der Sonne bringt; denn so würde er vor lauter Blendung nichts sehen können und sogar in seinem Wahn bestärkt werden, die Schatten in seiner Höhle hätten mehr Realität als die Dinge, die man ihm als die eigentlichen Realitäten vorweist. Man muss vielmehr so mit ihm verfahren, wenn man ihn daran gewöhnen will, in der Oberwelt die Sonne und die von ihr erhaltenen und beschienenen Gegenstände anzuschauen:
  1. er muss die Schatten der Dinge und dann ihre Spiegelungen im Wasser betrachten lernen;
  2. dann muss er angeleitet werden, seinen Blick nach den höheren Regionen zu wenden und bei Nacht die Himmelskörper, Sterne, Mond usw. anzuschauen; und endlich am hellen Tag die Sonne selbst und das von ihr erhaltene und beschienene Reich betrachten; dann wird er von selbst zu dem Schluss gelangen, dass die Sonne im Bereich des Sichtbaren das Prinzip aller Ordnung und alles Lebens ist.

Wenn ein solcher Mensch nun an seine ehemaligen Mitgefangenen denkt, wird er sich nunmehr über seine Veränderung glücklich preisen, jene aber bedauern; auch wird er sie über die im Schattenreich üblichen Belohnungen und Ämter nicht beneiden und um keinen Preis ein solches Leben mehr führen wollen. Wenn er dann wieder in jene Schattenwelt käme und mit seinen alten Mitgefangenen in der Erkenntnis und Behandlung der Schattendinge wetteifern sollte, während sich seine an das klare Licht gewöhnten Augen noch nicht zurecht gefunden hätten, so würde er anfangs unter ihnen ein großes Gelächter erregen, und sie würden von ihm sagen, der Mensch habe deshalb seine Sehkraft verloren, weil er an die Oberwelt gegangen sei. Und wenn er sich sogar unterstände, sie zu entfesseln und ihnen die selbe Aufklärung zu verschaffen, so würden sie ihn wie einen Feind behandeln (cap.3).
Hierauf folgt nun die Anwendung und Auslegung dieses Bildes. Das Leben in dem unterirdischen und höhlenartigen Kerker ist unser Leben auf Erden; die hin- und hergetragenen Bilder und ihre an der Wand erscheinenden Schatten bedeuten unsere sichtbare Welt, das leuchtende Höhlenfeuer die sichtbare Sonne; dagegen bedeutet das Hinaufsteigen und Beschauen der Oberwelt das methodische Vernunfterkennen, so wie diese das Reich des Intellegiblen darstellt. Wenn daher unsere künftigen Staatsregenten das durch die Vernunft Erkennbare (ideale) Reich und die Sonne desselben, das Gute, d.h. das oberste Prinzip alles Seins und aller Ordnung, kennen lernen wollen (was ihnen unerlässlich ist, da sie ohne deren Erkenntnis weder ihr eigenes Leben noch das eines Staates heilsam einrichten und leiten können), so müssen sie die selben Stadien des allmählichen Schauens durchlaufen, die unser Höhlenbewohner durchlaufen hat.

  1. Sie müssen zuerst die Dinge der intellegiblen Welt im Wasser, als in einem sinnlichen Medium schauen, d.h. sie müssen ihren Geist zuerst durch solche wissenschaftliche Lehrgegenstände vorüben, dass seine Erkenntnis allmählich der irdischen Sinnenwelt ab- und zur Anschauung des höheren Seins zugewendet wird;
  2. Dann müssen sie ihren Blick daran gewöhnen, sich von der sinnlichen Region zu der intellegiblen zu erheben, d.h. mit reinen Begriffen zu verfahren oder sich in der Dialektik (theoretischen Philosophie) zu üben; und endlich am hellen Tag die Sonne zu betrachten, d.h. das eigentlich Gute zu erkennen suchen.

Alsdann müssen sie wieder zu ihren Mitgefangenen hinabgehen, sich dort wieder die gehörige Praxis erwerben, mit den Schattenbildern zu verkehren, und so von Theorie und Praxis unterstützt bessere Ansichten und Heil unter ihren Brüdern verbreiten. -
Nachdem erst noch bemerkt wurde, dass man sich hiernach gar nicht wundern dürfe, wenn viele Philosophen, die einmal jenen himmlischen Glanz geschaut hätten, nicht mehr in jene unterirdische Höhle hinabgehen, das heißt Staatsämter annehmen wollten; ferner dass nach dieser Theorie die Bildung einer Seele nicht in der Kunst bestehe, ihr etwas einzusetzen, was sie nicht hat, sondern vielmehr in der Kunst, das der Seele schon eigene Erkenntnisorgan aus dem Dunkel des sinnlich wahrnehmbaren Seins allmählich in die Helle des durch Vernunft erkennbaren Seins umzulenken, bis sie dessen hellste Region, die Idee des Guten, schaut.
Nachdem noch gezeigt wurde, dass man unseren so gebildeten Philosophen nach der Schau des Guten mit Recht zumuten könne, wieder in die irdische Höhlenwelt hinabzusteigen und danach sowohl den Staat als auch ihr eigenes Leben einzurichten, beginnt dann (von cap.6) die Beantwortung der Frage, die schon Ende VI 16 aufgeworfen wurde, welches nämlich die wissenschaftlichen Gegenstände seien, in denen unsere Regierungskandidaten zusätzlich zu ihren physischen Fähigkeiten auch noch geprüft werden sollten; hiermit beginnt auch zugleich die eigentlich (philosophisch) theoretische und praktische Bildungsweise nach den oben angegebenen zwei Stadien.

  1. die Eigenschaft, das Auge der Seele von dem sinnlich Wahrnehmbaren ab- und der Helle des Intellegiblen zuzuwenden, so wie den praktischen Nutzen für die Kriegskunst, die ja doch unsere künftigen Regenten üben sollten (sie werden ja aus dem Kriegerstand gewählt), kann weder Gymnastik noch Musik im weitesten Wortsinn haben, sondern diese Eigenschaften sind nur bei den mathematischen Disziplinen zu finden; diese werden nun der Reihe nach abgehandelt, und bei einer jeden werden nicht nur die gedachten zwei Eigenschaften hervorgehoben, sondern es wird dabei auch der geistlose und allzu empirische Schlendrian gerügt, mit dem sie gewöhnlich bis dahin getrieben worden seien. Sie sind der Reihe nach: Arithmetik (cap.9), Stereometrie und Astronomie (cap.11), wovon aber erstere damals noch nicht existierte; Harmonik (bis Mitte cap.12);
  2. das Studium der Dialektik, ihr Verhältnis zum vorbereitenden Studium der Mathematik und das des Guten (cap.15).
Von cap.15 folgt alsdann Aufzählung der geistigen Eigenschaften, die diejenigen haben müssen, denen die genannten Wissenschaften erteilt werden sollen, so wie die Bestimmung der maßgeblichen Methode und des Alters, in welchem sie erteilt werden dürfen, damit sie der Philosophie nicht noch mehr Unehre bringen, sondern ihr vielmehr wieder zu ihrem verdienten guten Ruf verhelfen. Bis in das dreißigste Jahr müssen sie im mathematischen Vorstudium geübt werden; wer darin die gehörige Probe bestanden hat, wird dann bis zum fünfunddreißigsten Jahr zum Studium der Dialektik (theoretischen Philosophie) zugelassen. Sodann müssen sie sich fünfzehn Jahre (35-50) lang durch Verwaltung von Kriegs- und Staatsämtern die gehörige praktische Ausbildung verschaffen. Uns so gelangen sie endlich in ihrem fünfzigsten Jahr zum Ziel ihrer theoretischen und praktischen Vorbereitung und gelangen zur Regierung des Staates, die sie nach dem Vorbild des Gutes ausüben, und zwar so, dass sie der Reihe nach abwechselnd die Last der Staatsregierung tragen, die übrige Zeit aber zur Fortsetzung ihrer Studien und zur Heranbildung ähnlicher Staatsmänner verwenden. (Ende des 7. Buches)
Ende der beiden Exkurse

8./9. Buch:

 

Nach diesen beiden großen Exkursen wird mit dem Anfang des 8. Buches die schon IV 18 begonnene, aber am Anfang des 5. Buches eben wegen jener beiden Exkurse unterbrochene Materie wieder aufgenommen und fortgesetzt, nämlich der andere große Hauptteil unseres ganzen Werkes, in dem es um die Wesensbestimmung der Gerechtigkeit geht, ob die Ausübung der Gerechtigkeit an sich auch vorteilhaft sei, möge man dabei von aller Welt erkannt werden oder verkannt bleiben.
Dies Frage löst Platon so, dass er einen Vergleich anstellt zwischen dem moralisch vollkommenen Staat und Individuum einerseits und zwischen den (vier) Hauptarten der unmoralischen und ungerechten Staaten und den ihnen entsprechenden menschlichen Individuen andererseits. Weil aber der moralisch vollkommene Staat und der moralisch vollkommene einzelne Mensch schon im Zusammenhang mit der ersten Hauptfrage (über das Wesen der Gerechtigkeit) dargestellt wurden, brauchen hier nur noch die Hauptarten der ungerechten Staaten mit den ihnen entsprechenden Individuen in ihrer allmählichen Abstufung und Entartung von dem vollkommenen gerechten dargestellt werden.
Diese sind der Zahl nach vier und werden, nachdem (cap.3) der Faden wieder aufgenommen ist, nun auf folgende Weise aufgeführt, indem allemal bei jedem dieser Staaten erstlich die Entstehungsweise durch Entartung von dem jedes Mal vorhergehenden und dann die Schilderung und Charakterisierung, so wie sein Befinden dargestellt wird; dann folgt die Darstellung des ihm entsprechenden Individuums, wobei ebenso verfahren wird.

  1. Die Timokratie:
    • ihre Entstehungsweise durch Entartung des vollkommenen Staates (cap.3-4);
    • ihr Charakter (cap.5); -
    • Das der Timokratie entsprechende Individuum: hier folgt erst die Charakterisierung und dann die Entstehungsweise (bis cap.6).
  2. Oligarchie:
    • ihre Entstehungsweise durch Entartung aus der Timokratie (bis Mitte cap.6 = 551c);
    • Charakter und Befinden (cap.8);
    • Das dieser Verfassung ähnliche Individuum: Entstehung (bis cap.9);
    • Charakterisierung seiner Eigenschaft und seines Zustandes (bis cap.10).
  3. Demokratie:
    • Entstehung (bis cap.11);
    • Eigenschaft und Zustand (bis cap.12) -
    • Das demokratische Individuum: hier geht der Entstehungsweise (im Dienst der folgenden Untersuchung) eine Bestimmung der notwendigen und nicht notwendigen Begierden voraus (bis cap.13) und folgt jetzt erst selbst (bis Mitte cap.13 = 561a).
    • Charakter und Lebenszustand (bis cap.14).
  4. Die Tyrannis als die im höchsten Grad oder meisterhaft ungerechte Verfassung:
    • ihre Entstehungsweise durch Entartung aus der Demokratie (bis cap.17);
    • Charakter und angebliche Glückseligkeit der ungerechten oder unmoralischen Staatsverfassung (bis cap.19 einschließlich, oder bis zum Ende des 8. Buches).
    • Das der Tyrannis oder der ungerechtesten Verfassung entsprechende Individuum: der Entstehungsweise geht hier (in IX 1) im Dienst des Folgenden wieder eine kleine psychologische Erörterung voraus, gewissermaßen ein Zusatz zu cap.13, in dem gelehrt wird, dass es unter den nicht notwendigen Begierden sehr gesetz- und zügellose gibt, die sich bei jedem vorfinden, aber meist durch Vernunft und Sittlichkeit unterdrückt werden. Sie offenbaren sich dann nur im Schlaf oder in unreinen Träumen, wenn nämlich der bessere Teil der Seele schläft und allein die tierische wacht. Damit werden im Vorbeigehen einige sittliche Vorschriften über die Art und Weise gegeben, wie man schlafen gehen soll.
    • Hierauf folgt die Entstehungsweise des tyrannischen oder lasterhaften Individuums (cap.2-3);
    • dann sein Charakter und Lebenszustand, der besonders darin besteht, dass er im wachen Zustand das ist, was man nur in dem zügellosesten und scheußlichsten Traum sein kann; und derjenige gelangt zu dem höchsten Grad der Lasterhaftigkeit, der nicht nur von Natur eine tyrannische Seelenverfassung hat, sondern zu seinem größten Unheil auch auf einen Tyrannenthron gelangt (cap.4).
Nach der Darstellung dieser Verfassungsarten und der ihnen verwandten Individuen wird nun jene zweite Hauptfrage unseres Werkes entschieden, nämlich: Wer von beiden, die Gerechtigkeit oder die Ungerechtigkeit, hat an und für sich betrachtet, den größten Vorteil?
  1. Aus dem Vergleich der vier entarteten Staatsverfassungen und aus einem analogen Schluss von diesen auf die ihnen verwandten individuellen Menschencharaktere ergibt sich, dass jeder von ihnen ein desto glücklicheres Leben führt, je näher er dem vollkommenen Gerechten steht, dagegen ein desto unglückseligeres, je weiter es von ihm im moralischen Rang entfernt ist, dass also der Tugendhafteste der wahrhaft Glücklichste sei (bis cap.7).
  2. Da es drei Hauptseelenbestandteile gibt (vgl. IV 11-16),
    1. einen, der nach Weisheit und Erkenntnis strebt (Vernunft),
    2. einen, der durch mutige Taten nach Ehre und Ruhm trachtet (Zornesmut),
    3. einen, der die mannigfaltigen sinnlichen Begierden besonders durch Geld zu stillen strebt (Begehrlichkeit),
    so muss es auch drei Hauptvergnügen geben, und es kann daher die Frage aufgeworfen werden, ob jene Glückseligkeit nicht bloß eine subjektive sei, und ob die Behauptung sowohl vom Ehr- als auch Geldliebenden, dass seine Glückseligkeit die größte sei, eben so viel gelte.
    Dagegen wird nun bewiesen, dass das Vergnügen des nach Weisheit und Tugend strebenden Seelenbestandteils von Natur und objektiv das süßeste sei, und dass also auch das Leben desjenigen, in dessen Seele jener Bestandteil die Oberhand hat, objektiv das süßeste sein müsse (bis cap.9).
  3. Aber das Leben des Weisen und moralisch Guten ist nicht nur im Vergleich mit den übrigen das süßeste, sondern es allein ist auch nur süß und ein wahres Vergnügen zu nennen, während das Vergnügen der übrigen nur ein leeres Phantom ist und diesen nur darum als Vergnügen erscheint, weil sie etwas Höheres nicht kennen, wie etwas der Kranke im Moment der Krankheit in der Schmerzlosigkeit das größte Vergnügen sieht. Das Vergnügen des Weisen und Tugendhaften verhält sich zu dem sinnlichen Vergnügen wie das Schattenbild zu einem soliden Körper oder, mathematisch ausgedrückt wie 1 zu 729 (bis cap.12).
  4. Könnte man aber nicht hier noch gegen den unbedingten Vorzug der Tugend einwenden, was Thrasymachos (I 16) eingewendet hatte, nämlich Ungerechtigkeit könne, wo nicht noch größere, doch die selben Vorteile gewähren, wenn man sie nur meisterhaft verstände und bei der größten Ungerechtigkeit den Schein der Gerechtigkeit zu wahren wüsste? - Hiergegen zeigt nun Platon, nachdem der eigentliche Einfluss der Tugend und des Lasters schon dargetan ist, in einem Bild - in dem die Vernunft mit einem Engel, der Zornesmut mit einem Löwen und die Begehrlichkeit mit einem vielköpfigen, aus zahmen und aus wilden Tieren zusammengesetzten Ungeheuer verglichen wird - dass der Ungerechte, der unentdeckt und unter dem Schein eines Gerechten durch Ungerechtigkeiten zu gewinnen und Vorteile zu erzielen meint, ebenso verfahre, wie wenn das vielköpfige Ungeheuer den Löwen entkräfte, so dass ihn das Ungeheuer überall hinschleppen und den Engel seines Innern ermorden und aufzehren könne; er zeigt also, dass der Sünder und Lasterhafte, um ein wenig Gold sein teuerstes und edelstes Selbst in den Rachen eines Ungeheuers werfe und gewissermaßen sich selbst auffresse (bis cap.13).
    Im 13. und letzten Kapitel des neunten Buches werden aus der in diesem Bild dargestellten Wahrheit (mit Rücksicht auf die von dem ganz beschwichtigten Thrasymachos gemachten Äußerungen) noch diese Folgerungen gezogen:
    1. dass die mit der Immoralität verbundene Unehre nicht, wie Thrasymachos (I 12) meinte, das Werk einer auf Interesse beruhenden Übereinkunft, sondern in der Natur der Sache, nämlich in der Unterjochung des Göttlichen in uns von Seiten des Tierischen, ihren Grund habe. , ebenso die Verächtlichkeit der niederen Handwerke;
    2. dass sich daher ein jeder von dem moralisch vollkommenen Menschen so wie von dem Gesetz beherrschen lassen müsse, nicht damit er dadurch, wie gleichfalls Thrasymachos zu erkennen gab, einen Schaden leide, sondern damit er dadurch des höchsten Gutes teilhaftig werde;
    3. dass es daher nicht nur kein Vorteil und kein Glück für den Ungerechten sein könne, wenn er bei seinen Schändlichkeiten unentdeckt bleibt und der Strafe des Gesetzes entgeht, sondern sogar der größte Schaden und das größte Unheil für ihn, weil er dadurch nicht auf den Weg der Besserung zurückkommt und so gegen den Abgrund seines Verderbens keine Rettung findet.
    Wer also weise ist, wird sich durch diese Gründe erstlich dazu bewegen lassen, das höchste Ziel seines Strebens in die Erkenntnis der Wahrheit zu legen; wird ferner alle Bedürfnisse des Körpers nach der vernünftigen Harmonie seiner Seele einrichten und nach Vermögen und Ehre nur insoweit streben, als dies geschehen kann, ohne die harmonische Verfassung seines Innern zu erschüttern.
    Am Ende die Bemerkungen,
    1. dass nichts daran liege, ob der hier dargestellte Staat irgendwo vorhanden sei oder noch in die Wirklichkeit kommen werde: denn es sei darin nur ein sittliches Ideal für denjenigen aufgestellt, der danach die Verfassung seines Innern einrichten wolle; und
    2. dass der wahre Weise in keinem anderen als in einem solchen Staat Ämter annehmen werde und könne.

10. Buch:

 

Das 10. Buch, das aus verschiedenen Gründen als spätere Zugabe erscheint, bildet teils eine Ergänzung zu III 5, teils eine Zugabe zu Buch IX.

  1. Was die Ergänzung zu Buch III betrifft, ist uns noch in Erinnerung, dass Platon, als er nach der Darstellung der Vorschriften in Bezug auf die Dichtungen und Erzählungen über göttliche Personen auch auf die über Menschen kam, in dieser Hinsicht Form und Inhalt unterschied. Was den Inhalt angehe, bemerkte er damals, so könne er sich hierüber noch nicht äußern. Denn viele Dichter lehrten, Unrechttun bringe, wenn es unentdeckt bleibe, Vorteil, Gerechtigkeit aber nütze den andern und schade dem, der sie übe: So müsste er dies, wenn er sich darüber äußern solle, vorderhand schon für schlechtes und dummes Zeug halten und ihnen empfehlen, das Gegenteil zu singen, was er aber hier doch noch nicht gut könne, da er seine Idee von der Gerechtigkeit noch nicht objektiv dargestellt habe. Dass also gerade das Gegenteil von den durch die damaligen Dichter verbreiteten Lehren über die Gerechtigkeit gelehrt werden müsse, darauf will er, wie er dort ausdrücklich bemerkt (392c), wieder zurückkommen, wenn er erst die Aufgabe von dem Wesen der Gerechtigkeit beseitigt und erwiesen habe, dass sie ihrem Besitzer vorteilhaft sei, er möge nun vor der Welt den Schein davon haben oder nicht; in Bezug auf die Form wird indessen dort (III 6-10) bestimmt, dass alle nachahmende und dramatisch darstellende Poesie und alle Dichter dieser Art aus unserem Staat verbannt bleiben sollen.
    Jene Darstellung der Gerechtigkeit ist mit dem Ende des 9. Buches erfüllt, und Platon hält nun mit dem Anfang des 10. Buches sein dort gegebenes Wort. Er knüpft aber hier (Buch X) den Faden nicht so an, dass er wieder auf jenes ausgelassene Kapitel vom Inhalt kommt (denn ob die Ungerechtigkeit, wenn sie sich nicht erwischen lasse, vorteilhaft sei, und ob die Gerechtigkeit ein fremder Vorteil, aber ein eigener Schaden sei, das kann sich wohl jeder aus den IX 5 dargestellten Beweisen selbst beantworten), sondern er knüpft eher an seine dortigen Bestimmungen von der Form an, indem er bemerkt, unter den vielen Einrichtungen in seinem moralischen Staat gefalle ihm besonders die, dass er alle nachahmende Poesie daraus verbannt habe, und zwar aus folgenden Gründen:
    1. ihre Produkte sind ganz gehaltlos und entbehren aller Wahrheit, indem sie von dem wahren Sein drei Grade entfernt sind (cap.5);
    2. aber eben wegen ihrer Schalheit und moralischen Gehaltlosigkeit sind sie das beste Futter für das niederste Seelenvermögen, für die Begehrlichkeit, und stärken also das vielköpfige Ungeheuer, so dass es ihm leicht wird, das löwenartige und engelartige Vermögen zu unterjochen und zu verderben (cap.7);
    3. ja selbst die schon Tugendhaften, d.h. diejenigen, die schon gelernt haben, sich zu beherrschen, verleitet die nachahmende Poesie, die Herrschaft der Vernunft zu untergraben und die harmonische Seelenverfassung in Verwirrung zu bringen.
    Hierauf folgen gewissermaßen noch einige Entschuldigungen, warum Platon aus moralischen Gründen jene nachahmende Poesie verbannen müsse. Groß sei ja der Preis eines tugendhaften Lebens, so dass, wie aus dem Vorhergehenden erhelle, uns für dessen Verlust weder Ehre, noch Reichtum, noch ein Königtum entschädigen könne; daher dürfe man ihn doch gewiss auch nicht um die Lust an der darstellenden Poesie verscherzen (cap.9).
    Letzterer Gedanke verknüpft nun diesen Teil des 10. Buches mit dem folgenden.
  2. Jener Preis ist nämlich um so weniger zu verscherzen, als die größten Preise der Tugend noch gar nicht erwähnt sind, obgleich schon die bereits erwähnten Preise außerordentlich sind und für die Wahl zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit nicht im geringsten Zweifel lassen. -
    Man muss sich nämlich erinnern, dass bei der bis zum Ende des 9. Buches geführten Untersuchung, ob man in Bezug auf ihre Folgen die Tugend der Ungerechtigkeit vorziehen müsse, äußere Belohnungen gar nicht in Anschlag kamen, sondern bewiesen wurde, dass die Tugend wegen ihres inneren Wertes an und für sich den Vorzug verdient, ebenso, dass die Ungerechtigkeit an und für sich, möge sie unentdeckt bleiben oder nicht, verabscheuenswürdig und unheilvoll ist; eine Beweisführung, wie sie oben Glaukon (II 1-6) und Adeimantos (cap.11) von Sokrates verlangt hatten. Nachdem diese Beweisführung geliefert ist, dürfen nun, unbeschadet der inneren Würde der Tugend, auch die damit verknüpften Belohnungen in die Wagschale der Tugend gelegt werden, wodurch sich diese noch mehr hinabsinken würde, wenn es möglich wäre.
    Dazu gehören:
    1. die ewige Dauer oder die Unsterblichkeit der menschlichen Seele, die hier (cap.9-12) bewiesen wird;
    2. die Belohnungen, die der Seele zu ihrem inneren Seelenreichtum zu Teil werden, und zwar
      • schon auf dieser Erde (bis cap.13), und
      • in der Welt der Ewigkeit, während den Ungerechten sowohl in dieser als auch in jener Welt die größten Übel widerfahren (bis cap.16 einschließlich, oder Ende).

 

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Sententiae excerptae:
Griech. zu "Platon" und "Staat"
Literatur:
zu "Platon" und "Staat"
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Einheit der Polis. Eine Studie über Platons Staat
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Utopia und Utopie: Thomas Morus, die Geschichte der Utopie und die Kontroverse um ihren Begriff
Baden-Baden : Nomos, 1,2011
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Unruh, Peter
Sokrates und die Pflicht zum Rechtsgehorsam, eine Analyse von Platons "Kriton"
Baden-Baden: Nomos (Studien zur Rechtsphilosophie und Rechtstheorie 26) 2000
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