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H.-Georg Gadamer: Antike Atomlehre

in: H.-G. Gadamer (Hg.): Um die Begriffswelt der Vorsokratiker, Darmstadt 1968, S. 512-533

Ihre geschichtliche Bedeutung:

Die Wiederaufnahme antiker Gedanken (bes. der Atomistik) erfolgt in der Kritik gegenüber der christlich-scholastischen Tradition des Mittelalters und führt so zu den Anfängen der modernen Naturwissenschaft.

Quellenlage, Rezeption und Rekonstruktion:

Es hat sich keine originale Gesamtdarstellung der Antiken Atomtheorie aus ihrer Blütezeit (5.-4. Jh.) erhalten:

  • Berichte des siegreichen Antipoden Aristoteles und seiner spätantiken Erklärer;
  • Epikureer (Lukrez), die aufgrund der aristotelischen Kritik die ursprüngliche Lehre Leukipps und Demokrits in wesentlichen Punkten verzerrten (z.B. Fall der Atome);
  • die Rekonstruktion der antiken Atomistik aus den Prinzipien der modernen Naturwissenschaft. Dabei hat der Versuch zu erklären, warum die Atomistik dem Aristotelismus unterlag, zu zwei extremen Wertungen geführt:
    1. Rückhaltlose Bewunderung ihrer vorausschauenden Modernität. (Die aristotelische Naturauffassung wird dann zu einer scholastischen Verirrung.)
    2. Herabsetzung ihrer Bedeutung, um zu erklären, warum die Atomistik dem Aristotelismus unterlag. Z.B.:
      • das Fehlen einer Mechanik des Stoßes;
    3. erst durch die mathematisch-physikalischen Methoden der Neuzeit hätte die Atomtheorie sich überlegen erweisen können.

Selbstverständnis der antiken Atomtheorie:

Die Antike Atomistik "ist... ein Grundentwurf der wahren Wirklichkeit, wie er aus der philosophischen Frage nach dem Sein der Wirklichkeit erwächst (518), keine physikalische Forschungshypothese, die sich erst durch exakte Erklärung der Erfahrungswirklichkeit ausweisen wollte. Sie wollte das in der Tradition des Thales liegende Denken der Natur (φύσις) zu Ende denken, das im Gegensatz zu den tatkräftigen Göttern des Mythos davon ausging, dass alle wirkenden Kräfte in der Natur wirken ("alles ist voll von Göttern"). Diese Frage nach der Natur lautet: "Was ist das Bleibende in diesem unaufhörlichen Fluss des Geschehens und Vergehens, das ihm Regel und Ordnung und verlässliche Wiederkehr verleiht?" Keine Naturerklärung der antiken "Physiker" ist eine "physikalische" These im Sinne der modernen Naturwissenschaft. Der Atomismus bleibt trotz seines "wissenschaftlichen" Fortschritts gegenüber den alten Stofftheorien, die die Erscheinungsvielfalt durch Verdünnung und Verdichtung erklärten (die jetzt als Phänomene selbst geklärt werden), von dem Ziel einer ursprünglichen Gesamtdeutung des Seins geleitet.

Die einzelnen Vorzüge des Atomismus:

  • Die alten Stofftheorien erklärten die Erscheinungsvielfalt durch Verdünnung und Verdichtung. Diese Vorgänge sind jetzt keine Prämissen mehr, sondern können als Phänomene selber (durch die Annahme des Leeren) geklärt werden.
  • Die Radikalität, mit der die ganze Welt der Qualitäten auf die bloße Form und Bewegung der der Atome zurückgeführt wird (und alle qualitativen und geistigen Ansätze aus der primären Wirklichkeit des Seins ausgeschlossen werden).
  • Die Theorie des Atomismus ist die Vollendung der griechischen Aufklärung, weil sie an Einfachheit und Rationalität alle anderen zeitgenössischen Korpuskulartheorien (Empedokles, qualitativer Atomismus des Anaxagoras) übertrifft.

Die Deutung der Welt aus einer atomistischen Mechanik konnte sich trotz aller Vorzüge nicht durchsetzen, weil sie mit der spezifisch griechischen Grundidee der Ordnung in der Natur in Konkurrenz trat. Erst die Abschwächung der griechischen Ontologie eröffnete dem Atomismus seinen Siegeszug im Rahmen der mathematischen Naturwissenschaft.

Die Grundannahmen des antiken Atomismus:

  • Die Annahme a) der nach Größe und Gestalt verschiedenen Atome, b) des Leeren als eines Seienden; als eines inneren Aufbauelements der Körperwelt. Sie erklärt: Ortsbewegung, Verdichtung und Verdünnung, Wachsen usw. Die Anschaulichkeit der sinnlichen Erfahrung wird in der Welt der atomaren Wirklichkeit zwar um eine Stufe reduziert, aber noch nicht durch mathematische Abstraktion ersetzt.
  • Wie alle voraristotelischen Physiker haben auch die Atomisten ihr Weltbild als Kosmogonie gedacht: Weltbildung geschieht ohne bewegende Kraft, wenn sich aus dem grenzenlosen All viele vielgestaltige Körperchen in das Leere bewegen. Sie erzeugen einen Wirbel, der in seinem Zentrum ein erstes kosmisches System hervorbringt. Aus ihm bilden sich Erde und Himmelskörper. Alle Vorgänge erfolgen rein mechanisch.
  • Die Einheit einer Dinggestalt ist bloßer Schein. In Wahrheit gilt: das Eine (Atom) kann nie vieles werden, eine Vielheit nie eins sein: Alles Seiende ist eine Mischung von Vollem und Leerem, das Leere ist als das auseinanderhaltende die eigentliche "Ursache" der Gestalteinheit.
  • Die Teilchen unterscheiden sich nach Gestalt und Größe. So verhaken sie sich, und schließen auch immer kleine, runde Atome und vor allem Leeres zwischen sich ein.

Grundlegende Prinzipien einer Mechanik:

Aus dieser atomaren Theorie des Naturgeschehens lassen sich die Grundgesetze der Mechanik ablesen: eine Theorie des Stoßes, der Massenanziehung, das Kausalgesetz, das Prinzip der Erhaltung der Materie, der Erhaltung der Kraft, der Wirkung, das Entropiegesetz usw. Aber sie sind von Demokrit nicht zufällig unformuliert geblieben. Für jede Erscheinung gibt es eine zwingende Verursachung, die es zu erforschen gilt. Der Zufall scheidet als Erklärung aus. "Die siegreiche Kraft des mechanischen Kausalitätsbegriffs im Bunde mit der rücksichtslosen Reduktion aller qualitativer Gegebenheiten auf die wahre Welt der Atomgestalten machen so die demokritische Wissenschaft, wie es scheint, zum echten Vorbild der Naturwissenschaft der Neuzeit."

Defizite der atomaren Mechanik der Antike:

Es fehlten weitgehend:

  • die Mittel, die Theorie im einzelnen der Forschung durchzuführen;
  • eine exakte Kenntnis der Mechanik des Stoßes;
  • das quantitative Experiment;
  • eine der Abstraktheit der Theorie adäquate Mathematik.

Philosophische Grundmotive:

  1. Der Atomgedanke ist ein ontologisches Postulat. Er versucht den eleatischen Seinsgedanken mit den Forderungen der Naturerfahrung zu vereinbaren: Das Hauptmotiv ist also die Auffassung, dass Seiendes nie nicht sein kann (also unveränderlich beharrt). Das kann aber nur etwas sein, was nicht vom sichtbaren Zerfall der Dinge betroffen ist. Nach Aristoteles: Eine unbegrenzte Teilbarkeit, wie sie der Gedanke eines Kontinuums grundsätzlich fordert, scheitert an der Natur des Körperlichen: Unbegrenzte Teilbarkeit ließe alles Körperliche ins Leere vergehen, das Körperliche wäre nichts als Leeres.
  2. Die Unteilbarkeit der Atome ist also eine ontologische, keine mathematische Forderung. Sie beruht darauf, dass sie frei von Leerem (solide) sind.
  3. Die Zahl der Atome ist unbegrenzt (unzählbar) und erklärt so die unbegrenzte Mannigfaltigkeit der Erscheinungen. Dabei kann schon die Einmischung eines einzigen Atoms das Aussehen der Atomfigur entscheidend verändern. Die "echte" Erkenntnis durchdringt den Sinnenschein und erkennt, dass es keinen Zufall gibt, sondern alles in der mechanischen Notwendigkeit seine Gründe hat, kann aber nur grobe Umrisse des wahren Mechanismus erkennen.
  4. Unter dem Zwang ihrer seit jeher festgelegten Bewegung fügen sich die Atome zu ephemeren Erscheinungen, aber auch zu neuen Welten. Diese kennen wir zwar nicht, aber der sinnlose Mechanismus muss überall zur Weltenbildung führen, wo sich Atome massieren. Platonisch-aristotelische Kritik: Eine solche Weltdeutung führt offenbar in die härteste Spannung zur natürlichen Erfahrung der Welt als eines sinnhaften, zweckmäßig geordneten Kosmos. Der Mechanismus lässt sich letztlich nur als (glücklicher) Zufall verstehen. Diese Kritik übt mit Erfolg die attischen Philosophie: «»Die "Natur", die wir kennen, ist sinnvoll belebte Ordnung und nicht aus blinder Zwangsläufigkeit sich ergebender Zufall.« (Plat. Nom. X). Die Annahme der Notwendigkeit wirkt als Sinnentleerung alles Geschehens.
  5. Die Sinneswahrnehmung bildet die Fuge zwischen der atomaren Welt und der der Erscheinung: Die primäre Wirklichkeit der Atome und ihrer Bewegung degradiert die sinnliche Wahrnehmung zum bloßen Schein, aber dieser Schein ist zugleich das Wahre, wie es sich zeigt. Die realen Atomfigurationen führen beim Betrachter zu jeweils wechselnden und subjektiven Empfindungen. Wir bestimmen Größe, Gestalt und Lage der Atome, indem wir die aus unserer Sinneswahrnehmung bekannten mechanischen Eigenschaften der Dinge analogisch auf die Atome zurück- übertragen: Die Kritik der Sinne fällt auf den Verstand zurück (B10).
      Kritik der Metaphysik: "Nicht gegeneinander gleichgültige Teilchen, die sich anfügen oder umordnen, sondern Gestalten sind das primäre Sein der Wirklichkeit. Und diese Gestalten springen nicht erst aus dem Würfelbecher des Zufalls heraus: sie - und nicht die atomaren Urgestalten - sind die regelnde Einheit der Vorgänge, die wir uns erklären wollen." (530).
  6. Die moderne mechanische Naturwissenschaft beschränkt das Wissbare auf das Mathematische und ist sich bewusst, dass jeder Erkenntnisfortschritt einen Verlust an natürlicher Anschauung bedeutet. Demokrit erscheint als ihr früher Ahn, die einheitliche Weltsicht des Aristoteles als lähmender Dogmatismus. Aus der Sicht der Weltanschauung fällt die Wertung umgekehrt aus: Aristoteles großartige Weltsicht verhindert die von Demokrits Aufklärung auf die Spitze getriebene Auflösung aller gestaltbildenden Kräfte.
  7. Die aristotelische Kritik ist platonischen Ursprungs. Man hat zu Recht das ganze Werk Platons als einen großen Dialog mit Demokrit verstanden. Platon selbst zeigt sich im Timaios als Schöpfer einer atomistischen Theorie: Seine letzte Elementarteilchen, aus denen sich der Stoff der Welt (nicht die Weltordnung!) aufbaut, sind Dreiecke. Das Dreieck ist die einfachste Figur, in die sich alle mathematischen Raumgestalten aufteilen lassen. Platons Atome sind also eidetischer Natur. Der Aufbau der Natur erfolgt als mathematische Synthesis, nicht als regelloses und zwangsläufiges Geschehen.

Sententiae excerptae:
Griech. zu "Atomis"
Literatur:
zu "Atomis"
2424
Bloch, K.
Anaxagoras und die Atomistik
in: Class et Mediaev. 1959, 1ff.

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Capelle, W.
Die Vorsokratiker. Die Fragmente und Quellenberichte , übersetzt und eingeleitet von...
Stuttgart (Kröner, TB 119) 7/1968

1447
Diels, H. / Kranz, W.
Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und deutsch, I-III [maßgebliche Ausgabe der Vorsokratiker]
Belin (Weidmann) 1960

4592
Eckstein, Friedrich
Abriss der griechischen Philosophie
Franfurt (Main), Hirschgraben, 3/1969

1456
Fritz, K.v.
Grundprobleme der Geschichte der antiken Wissenschaft, S.221-250
Berlin, New York (de Gruyter) 1971.

1448
Gadamer, H.G.
Um die Begriffswelt der Vorsokratiker
Darmstadt (WBG, WdF 9) 1968

1442
Löbl, R.
Demokrits Atomphysik
Darmstadt (WBG Erträge 252) 1987

1478
Nestle, W.
Die Atomistik und die Anfänge der wissenschaftlichen Medizin
in: Vom Mythos zum Logos, Stuttgart 1942, S. 193ff

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Römer, H.
Atome, Teilchen, Teilbarkeit. Zum Paradox von Ausgedehntheit und Teilbarkeit
in: Universitas 12/1992, 1170-1184

1451
Sambursky, S.
Das physikalische Weltbild der Antike
Zürich, Stuttgart (Artemis) 1965

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Schadewaldt, W.
Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen. Tübinger Vorlesungen Bd. I
Frankfurt/M (Suhrkamp) 1/1978

1485
Schenk, G.
Das unsichtbare Universum. Nuklearphysik
Berlin (Safari) 1964

1441
Schirnding, A.v.
Am Anfang war das Staunen. Über den Ursprung der Philosophie bei den Griechen
München (Kösel) 1978

4085
Schulze, Peter
Anatomisches Wörterbuch. Lateinisch-deutsch, deutsch-lateinisch
Stuttgart, Thieme, 2008

2316
Schwegler, Albert
Geschichte der Philosophie im Umriss. Ein Leitfaden zur Übersicht
Stuttgart, Conradi 9/1876

1480
Seide, R.
Zum Problem des geometrischen Atomismus bei Demokrit
in: Herm. 109/1981, 265

1979
Stückelberger, A.
Die Atomistik in römischer Zeit: Rezeption und Verdrängung
in: ANRW II.36.4 (1990) 2561-2580


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