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Vorsokratische Philosophie

Thales aus Milet - Θαλῆς ὁ Μιλήσιος

 

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Thales von Milet (ca. 639-546): Der erste der "Sieben Weisen". Ein weit gereister Praktiker , aber auch Theoretiker (Geometrie, Astronomie, Meteorologie): Politischer Rat an die ionischen Städte, gegen Kroisos einen Bund zu schließen. Berechnung der Höhe der Pyramiden, Voraussage der Sonnenfinsternis vom 28.5.585 v.Chr., verschiedene geometrische Sätze (noch keine Beweise wie Euklid?). Einfache Empirie, Beobachten, die er ursächlich verknüpft, führt ihn zur Annahme, dass das Wasser der Urgrund aller Dinge ist. Damit konnte er auf das Problem von Sein und Werden / Vergehen (Satz von der Erhaltung des Seins) und das Problem von Einheit und Vielheit eine vernünftige (rationale) Antwort geben. Damit wird die mythische Welterklärung (Hesiod: Zeugung durch Uranos und Gaia) durch eine im Ansatz wissenschaftlich-physikalische Betrachtungsweise abgelöst. Die Gestirne gelten statt als Götter jetzt als "glühende Massen". Die Kräfte sind den Dingen immanent. 

1.) 11 A5 [Herod.1,74]
  Μετὰ δὲ ταῦτα, ... πόλεμος τοῖσι Λυδοῖσι καὶ τοῖσι Μήδοισι ἐγεγόνεε ἐπ' ἔτεα πέντε, ἐν τοῖσι πολλάκις μὲν οἱ Μῆδοι τοὺς Λυδοὺς ἐνίκησαν, πολλάκις δέ οἱ Λυδοὶ τοὺς Μήδους· [ἐν δὲ καὶ νυκτομαχίην τινὰ ἐποιήσαντο·] διαφέρουσι δέ σφι ἐπὶ ἴσης τὸν πόλεμον τῷ ἕκτῳ ἔτει συμβολῆς γενομένης συνήνεικε ὥστε, τῆς μάχης συνεστεώσης, τὴν ἡμέρην ἐξαπίνης νύκτα γενέσθαι. Τὴν δὲ μεταλλαγὴν ταύτην τῆς ἡμέρης Θαλῆς ὁ Μιλήσιος τοῖσι Ἴωσι προηγόρευσε ἔσεσθαι, οὖρον προθέμενος ἐνιαυτὸν τοῦτον ἐν τῷ δὴ καὶ ἐγένετο ἡ μεταβολή.
ἡ νυκτομαχίη - Kampf bei Nacht (infolge der Sonnenfinsternis) | διαφέρειν τὸν πόλεμον - den Krieg ununterbrochen fortführen (sc. den Krieg zwischen Alyattes von Lydien und Kyaxares von Medien | ἐπὶ ἴσης <μοίρης> - unentschieden | ἡ συμβολή - Zusammenstoß, Schlacht |  συμφέρει τινί - es ereignet sich für jdn. | ἐξαπίνης - plötzlich | μάχη συνίσταται - der Kampf beginnt | τῆς μάχης συνεστεώσης - mitten im Kampf | νὺξ γίγνεται - die Sonnenfinsternis vom 28.5.585 v.Chr. | ἡ μεταλλαγή - Veränderung | ὁ οὖρος - Grenze (= ὁ ὅρος) | ὁ ἐνιαυτός - Jahr | ἡ μεταβολή - der Wechsel (von Tag zu Nacht), das Naturereignis
  • Es ist unklar, mit welchen Mitteln Thales seine spektakuläre Voraussage gelungen ist: Wenn entsprechende Kenntnisse der Babylonier (um 600 v.Chr.) zu Recht bezweifelt werden (O.Neugebauer), könnte die Erzählung Herodots wohl keinen Wahrheitsgehalt beanspruchen. Andererseits ist die Vorhersage der Sonnenfinsternis durch Thales in der gesamten Antike sehr gut bezeugt. (Heuser, 6)
  • Zur thaletischen Erklärung der Sonnenfinsternis und ihrer Glaubwürdigkeit vgl. 11 A17
2.) 11 A11 [Procl. in Eucl. 65,3]
  ὥσπερ οὖν παρὰ τοῖς Φοίνιξιν διὰ τὰς ἐμπορείας καὶ τὰ συναλλάγματα τὴν ἀρχὴν ἔλαβεν ἡ τῶν ἀριθμῶν ἀκριβὴς γνῶσις, οὕτω δὴ καὶ παρ' Αἰγυπτίοις ἡ γεωμετρία διὰ τὴν εἰρημένην αἰτίαν εὕρηται. Θαλῆς δὲ πρῶτον εἰς Αἴγυπτον ἐλθὼν μετήγαγεν εἰς τὴν Ἑλλάδα τὴν θεωρίαν ταύτην καὶ πολλὰ μὲν αὐτὸς εὗρεν, πολλῶν δὲ τὰς ἀρχὰς τοῖς μετ' αὐτὸν ὑφηγήσατο τοῖς μὲν καθολικώτερον ἐπιβάλλων, τοῖς δὲ αἰσθητικώτερον.
ἡ ἐμπορεία - Handel | τὸ συνάλλαγμα - Warenaustausch, Verkehr | μετάγειν - hinüberbringen, verpflanzen | ἡ θεωρία - Betrachtungsweise, Anschauung, Wissenschaft | εὑρίσκειν - herausfinden, entdecken | τὰς ἀρχὰς ὑφηγεῖσθαι - die Ursachen aufzeigen, den Grund legen | καθολικός, όν - allgemein, das Ganze betreffend | ἐπιβάλλειν - h. intr.: sich auf etwas werfen, zuwenden (incumbere alicui rei) 

3.) 11 A12 [Aristot.Met.I 3.983b6 ff.]. Die Einleitung zu diesem Fragment: Aristot.Met.983a26-983b6
  τῶν δὴ πρώτων φιλοσοφησάντων οἱ πλεῖστοι τὰς ἐν ὕλης εἴδει μόνας ᾠήθησαν ἀρχὰς εἶναι πάντων· ἐξ οὗ γὰρ ἔστιν ἅπαντα τὰ ὄντα καὶ ἐξ οὗ γίγνεται πρώτου καὶ εἰς ὃ φθείρεται τελευταῖον, τῆς μὲν οὐσίας ὑπομενούσης τοῖς δὲ πάθεσι μεταβαλλούσης, τοῦτο στοιχεῖον καὶ ταύτην ἀρχήν φασιν εἶναι τῶν ὄντων, καὶ διὰ τοῦτο οὔτε γίγνεσθαι οὐθὲν οἴονται οὔτε ἀπόλλυσθαι, ὡς τῆς τοιαύτης φύσεως ἀεὶ σῳζομένης.
ὕλη - Holz, Baustoff, Materie | τὰς ἐν ὕλης εἴδει <ἀρχάς>  - die stofflich gearteten (materiellen) Urgürnde | ἡ ἀρχή - Ursprung, Prinzip | τὰ ὄντα - das Seiende, die Dinge | ἡ οὐσία - Wesen, Substanz |  ὑπομένειν - (erhalten) bleiben | τὸ πάθος - Zustand, Erscheinungsform | τὸ στοιχεῖον - Urstoff, Element | σῴζεσθαι - erhalten bleiben |

Thales stellt die Grundfrage nach der Natur: "Was ist das Bleibende in diesem unaufhörlichen Fluß des Geschehens und Vergehens, das ihm Regel und Ordnung und verlässliche Wiederkehr verleiht?" (Gadamer 518)

  • Der Vielfalt der Dinge, die wir in ihrem ständigen Werden und Vergehen erleben, liegt ein elementar unveränderliches und unverlierbares Sein zugrunde: In Wahrheit sind die Dinge die mehr oder weniger zufällige Ausprägung dieses elementar Seienden. Unsere Welt ist nichts anderes als der momentane Status eines unaufhörlichen "Wertstoff-Recyclings": Nichts geht verloren: aus alt macht sie neu! denn nichts kommt von nichts.
  • Diese bildhafte Ausdrucksweise kommt Thales vielleicht näher als die philosophische Terminologie des Aristoteles. 
Zur Quellenlage:
  • "Hegel sagt in seinen Vorlesungen über die Geschichte der griechischen Philosophie an der Stelle, wo er von den Quellen für die Erkenntnis der ältesten Epoche der Philosophie spricht, folgendes: «Aristoteles ist die reichhaltigste Quelle. Er hat die älteren Philosophen ausdrücklich und gründlich studiert und im Beginn seiner Metaphysik vornehmlich (auch sonst vielfach) der Reihe nach geschichtlich von ihnen gesprochen. Er ist so philosophisch wie gelehrt; wir können uns auf ihn verlassen. Für die griechische Philosophie ist nichts Besseres zu tun, als das erste Buch seiner Metaphysik vorzunehmen.» (WW. XIII. S. 189)." (M. Heidegger: Der Spruch des Anaximander, in Holzwege, FfM 1972, S. 298) 
  • Im Zusammenhang mit dem ἀρχή-Begriff lässt sich eine grundsätzliche Problematik der "indirekten" Überlieferung aufzeigen (das Problem der "retrospektiven Verzeichnung"; vgl. auch κόσμος): "Ein Autor zitiert einen anderen immer in bestimmten eigenen Gedankengängen. Wieweit entspricht das, was er zitiert, wirklich dem Gemeinten oder wieweit hat er es auf seine eigenen Gedanken hin zurechtgebogen? Wenn er wörtlich zitiert, gleichsam Anführungsstriche setzt, ist es gut, aber das ist bei den wenigsten der Fall, meist haben wir nur Berichte. Schwierig wird es z.B., wenn es von Thales heißt, er habe als ἀρχή von allem das Wasser gesetzt. hat er wirklich diesen Ausdruck ἀρχή gebraucht oder nimmt der Berichtende den ihm geläufigen Ausdruck für die Interpretation dessen, was der andere gesagt hatte? Die Philosophiegeschichte hat diese Behauptung meistens gläubig hingenommen, noch bis in die neuesten Handbücher. Und doch ist wahrscheinlich in dieser Aussage jedes Wort falsch; sie sagt, was Thales gemeint hat, aber sagt es in anderer Weise. Hier ist retrospektiv etwas in ein Denken ganz anderer Art hineinprojiziert worden, und so werden Thales Begriffe in den Mund gelegt, von denen er keine Ahnung hatte." (Schadewaldt 214)
    Aristoteles selbst reflektiert sein Interesse und seine Erwartung an die vorsokratische Philosophie in dem das Fragment 11 A12 einleitenden Passus Aristot.Met.983a26-983b6
  • Die Methode, das "Echte" durch Eliminierung des Aristotelischen zu finden, kann auch in die Irre führen." (U. Hölscher: Anaximander und die Anfänge der Philosophie, in: Gadamer S. 112).
  • Vgl. zu diesem Thema die Diskussion zwischen W.Buchenberg und dem Webmaster
4.) 11 A12 (b) [Aristot.Met.I 3.983b17 ff.]
 

δεῖ γὰρ εἶναί τινα φύσιν ἢ μίαν ἢ πλείους μιᾶς, ἐξ ὧν γίγνεται τἆλλα σῳζομένης ἐκείνης. τὸ μέντοι πλῆθος καὶ τὸ εἶδος τῆς τοιαύτης ἀρχῆς οὐ τὸ αὐτὸ πάντες λέγουσιν, ἀλλὰ Θαλῆς μὲν ὁ τῆς τοιαύτης ἀρχηγὸς φιλοσοφίας ὕδωρ εἶναί φησιν [διὸ καὶ τὴν γῆν ἐφ' ὕδατος ἀπεφαίνετο εἶναι], λαβὼν ἴσως τὴν ὑπόληψιν ταύτην ἐκ τοῦ πάντων ὁρᾶν τὴν τροφὴν ὑγρὰν οὖσαν καὶ αὐτὸ τὸ θερμὸν ἐκ τούτου γιγνόμενον καὶ τούτῳ ζῶν [τὸ δ' ἐξ οὗ γίγνεται, τοῦτ' ἐστὶν ἀρχὴ πάντων], διά τε δὴ τοῦτο τὴν ὑπόληψιν λαβὼν ταύτην καὶ διὰ τὸ πάντων τὰ σπέρματα τὴν φύσιν ὑγρὰν ἔχειν· τὸ δ' ὕδωρ ἀρχὴ τῆς φύσεώς ἐστι τοῖς ὑγροῖς. εἰσὶ δέ τινες οἳ καὶ τοὺς παμπαλαίους καὶ πολὺ πρὸ τῆς νῦν γενέσεως καὶ πρώτους θεολογήσαντας οὕτως οἴονται περὶ τῆς φύσεως ὑπολαβεῖν· Ὠκεανόν τε γὰρ καὶ Τηθὺν ἐποίησαν τῆς γενέσεως πατέρας [Ηομ.Ξ 201] καὶ τὸν ὅρκον τῶν θεῶν ὕδωρ, τὴν καλουμένην ὑπ' αὐτῶν Στύγα τῶν ποιητῶν [Ο 37 υ. α.]· τιμιώτατον μὲν γὰρ τὸ πρεσβύτατον, ὅρκος δὲ τὸ τιμιώτατόν ἐστιν.

φύσις - a) Ursprung, Entstehung (Grundsubstanz) b) die natürliche Form oder Verfassung einer Person oder Sache als Ergebnis ihres Wachstums, c) die normative Naturordnung (unter dieser φύσις versteht Aristoteles die ὕλη. Vgl. Aristot.Met.1069b3-1069b34)| τὸ πλῆθος Zahl | τὸ εἶδος Aussehen |  ὁ ἀρχηγός - Begründer | ἀποφαίνεσθαι - eine Meinung äußern, aufzeigen, lehren | ἡ ὑπόληψις - Annahme, Meinung, Hypothese |  τὸ σπέρμα - Samen | ἀρχὴ τῆς φύσεώς ἐστι τοῖς ὑγροῖς - ist der natürliche Urgrund für das Feuchte | παμπάλαιος - uralt | ἡ νῦν γένεσις - die jetzt lebende Generation (ἡ γένεσις - Geschlecht, Generation; Ursprung, Entstehung, Weltentstehung) | θεολογεῖν - nach den göttlichen Dingen forschen, in mythischer Form denken |  Ὠκεανός und Τηθύς sind  Meeresgottheiten | Στύξ - Styx (Unterweltfluss, bei dem die Götter schwören)

Vgl. Hom.Il.14,201 f.

Ὠκεανόν τε θεῶν γένεσιν καὶ μητέρα Τηθύν,
οἵ μ' ἐν σφοῖσι δόμοισιν ἐὺ τρέφον ἠδ' ἀτίταλλον

ἀτιτάλλω - ziehe auf, pflege (verehre) 

Hegel: "Der einfache Satz des Thales ist a) darum Philosophie, weil darin nicht das sinnliche Wasser in seiner Besonderheit gegen andere natürliche Elemente und Dinge genommen ist, sondern als Gedanke, in welchem alle wirklichen Dinge aufgelöst und enthalten sind, es also als das allgemeine Wesen gefasst ist; und b) Naturphilosophie, weil dies Allgemeine als Reales 
bestimmt ist, also das Absolute als Einheit des Gedankens und Seins. Daß das Wasser das Prinzip sei, ist die ganze Philosophie des Thales. (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, S. 286) "Der Thaletische Satz, dass das Wasser das Absolute oder, wie die Alten sagten, das Prinzip sei, ist philosophisch; die Philosophie beginnt damit, weil es damit zum Bewußtsein kommt, dass Eins das Wesen, das Wahrhafte, das allein Anundfürsichseiende ist. Es
tritt hier eine Abscheidung ein von dem, was in unserer sinnlichen Wahrnehmung ist; von diesem unmittelbar Seienden, - ein Zurücktreten davon. (S. 287 f.)

Röd (37): "Thales hat [...] dadurch einen gewaltigen Schritt über das mythische Weltbild hinaus getan, dass er den Anfang des Weltprozesses nicht mehr in einen Willensakt einer mit menschlichen Zügen ausgestatteten Gottheit verlegte, sondern in ein unpersönliches Prinzip."
"Nach der herkömmlichen Interpretation der von Aristoteles überlieferten Auffassung hat Aristoteles sagen wollen, das Wasser sei insofern der Ursprung aller Dinge, als sich alle Elemente aus Wasser gebildet hätten und im Grunde stets Wasser seien. 
Diese These enthält ansatzweise folgende wichtige metaphysische Implikationen;

  1. Der Vielheit der Dinge liegt eine Einheit zugrunde.
  2. Der Erscheinung liegt ein wahres Wesen zugrunde.
  3. Werden ist als Veränderung eines beharrenden Substrats aufzufassen. 
  4. Allen Kausalzusammenhängen liegt ein erster Grund zugrunde, wobei die ἀρχή des Thales keine träge Masse, sondern spontan wirkender Ursprung ist.

Die vermeintliche Primitivität dieser materialistischen Deutung durch Aristoteles hat einige Interpreten (z.B. O.Gigon; gestützt auf διὸ καὶ τὴν γῆν ἐφ' ὕδατος ἀπεφαίνετο εἶναι, 11A12) zu der Auslegung geführt, die Erde sei nur in dem Sinne aus dem Wasser hervorgegangen, dass sie aus dem Meer, das sie zunächst vollständig überflutete, aufgetaucht ist. Ohne die metaphysische Grundstruktur seines Denkens hätte es aber keinen Sinn, in Thales den ersten Philosophen zu sehen und ohne Kontinuität wäre Anaximander als Nachfolger kaum denkbar.
Die Rationalität im Denken des Thales (im Gegensatz zum mythischen Weltbild) wird verschieden gedeutet: 

  1. formale Rationalisierung überkommener mythischer Vorstellungen (durch Elimination der personifizierten Darstellung der Weltentstehung);
  2. Erklärung von (auch mythosfremden Naturtatsachen durch kausale Verknüpfung. 
5.) 11 A16 [Herod.2,20]
Ansichten der Griechen über die Nilschwelle:
 

Τῶν ἡ ἑτέρη μὲν λέγει τοὺς ἐτησίας ἀνέμους εἶναι αἰτίους πληθύειν τὸν ποταμόν, κωλύοντας ἐς θάλασσαν ἐκρέειν τὸν Νεῖλον.

οἱ ἐτησίαι <ἄνεμοι> - Jahres-, Passatwinde, Etesien | πληθύω - fülle mich, schwelle an (von Flüssen)

Heuser (12): "Die Erklärung (sc. der Nilschwelle durch Thales) ist falsch, ähnlich wie Galileis Erklärung der Gezeiten und Lavoisiers Erklärung der Wärme, aber das Bahnbrechende ist, dass sie wissenschaftlich verfährt: Sie verknüpft ein periodisches Phänomen (die Nilschwelle) mit einem anderen periodischen Phänomen (den Etesien) ohne Zauberkausalität. Man muss dies alles auf dem Hintergrund der ägyptischen Theorie sehen: Nach ihr war es Chnum, ein göttliches Wesen in der Gestalt eines Widders mit geraden Hörnern, sehr langen, der die Überschwemmungen irgendwie brachte. Auch an eine Erklärung der Erdbeben soll Thales sich gewagt haben: Seine Meinung nach schwamm die Erde auf dem Wasser wie ein Schiff, wenn das Tragewasser in Bewegung geriet - und das war dann ein Erdbeben. (A15). Die Erklärung ist naiv . und ist doch ungleich rationaler als die herkömmliche griechische, nach der Erdbeben dadurch entstehen, dass Poseidon seinen Dreizack gegen einen Felsen stößt. Die thaletischen Theorien sind allsesamt 'entzaubernd', 'entdämonisierend' - und eben das macht sie zu Wegbereitern der Wissenschaft."

6.) 11 A17 [A17a: AET.2,13,1 [D.341; D.349; D.353]; A17b: II 27, 5 [D. 358]]
A
(17 a)  Θαλῆς γεώδη μέν, ἔμπυρα δὲ τὰ ἄστρα.
Θαλῆς γεοειδῆ τὸν ἥλιον.
Θαλῆς πρῶτος ἔφη ἐκλείπειν τὸν ἥλιον τῆς σελήνης αὐτὸν ὑπερχομένης κατὰ κάθετον, οὔσης φύσει γεώδους. βλέπεσθαι δὲ τοῦτο κατοπτρικῶς ὑποτιθέμενον τῶι δίσκωι.
(17 b) Θαλῆς πρῶτος ἔφη ὑπὸ τοῦ ἡλίου φωτίζεσθαι τὴν σελήνην.
γεώδης, ες - erdartig (τὸ εἶδος) | ἔμπυρος - feurig (τὸ πῦρ) | τῆς σελήνης ὑπερχομένης sc. zwischen Sonne und Erde | ἡ κάθετος (καθίημι) - das Bleilot (κατὰ κάθετον - im Lot, senkrecht) | κατοπτρικός - spiegelartig (τὸ κάτοπτρον) |  φωτίζω - erhelle, strahle an
  • Die "sakrilegische" These von den Sternen als feuriger Erde bahnt der materialistischen Auffassung den Weg, dass die Sterne in natürlicher Weise aus natürlichen Stoffen aufgebaut sein müssen. Für die Chaldäer waren und blieben die Sterne stets leibhaftige Götter. Anaxagoras handelte sich für die Wiederholung dieser rationalen Sternenerklärung einen Asebie-Prozess ein. Aristoteles erfand als Sternensubstanz einen schwerelosen Aither (αἰθήρ) (Heuser, 9)
  • Die richtige Erklärung der Sonnenfinsternis gilt für Thales als unglaubwürdig, weil sonst nach ihm sein Nachfolger Anaximander schwerlich noch einmal eine falsche Theorie aufgestellt hätte. Jedoch gibt es andere Beispiele dafür, dass richtige Erklärungen wegen ihres revolutionären Charakters zunächst keine Anerkennung fanden (Heuser, 9)
  • Nach den Chaldäern erhielt der Mond sein Licht von Mardug-Bel, "der in einer brillanten Karriere vom babylonischen Stadtgott zum 'Herrn der Götter' aufgestiegen war." (Meusel, 9)
7.) 11 A20 Procl. in Eucl. a) 157, 10 Friedl. b) 250, 20 c) 299, 1 d) 352, 14]
 
(20a)  τὸ μὲν οὖν διχοτομεῖσθαι τὸν κύκλον ὑπὸ τῆς διαμέτρου πρῶτον Θαλῆν ἐκεῖνον ἀποδεῖξαί φασιν.
  διχοτομέω - zweiteile, halbiere | ἡ διάμετρος - Durchmesser, Diagonale | ἀποδείκνυμι - zeige auf, beweise | ἐφίστημι - stelle auf, setze fest |
(20b) 

τῷ μὲν οὖν Θαλῇ τῷ παλαιῷ πολλῶν τε ἄλλων εὑρέσεως ἕνεκα καὶ τοῦδε τοῦ θεωρήματος χάρις. λέγεται γὰρ δὴ πρῶτος ἐκεῖνος ἐπιστῆσαι καὶ εἰπεῖν, ὡς ἄρα παντὸς ἰσοσκελοῦς αἱ πρὸς τῇ βάσει γωνίαι ἴσαι εἰσίν, ἀρχαικώτερον δὲ τὰς "ἴσας" ὁμοίας προσειρηκέναι.

  ἡ χάρις - Anerkennung, Dankbarkeit, Gruß | ἰσοσκελής, ές -gleichschenklig (τὸ σκέλος)  | τὸ ἰσοσκελὲς <τρίγωνον> - das gleichschenklige Dreieck | ἡ γωνία - Winkel, Ecke | 
(20c)  τοῦτο τοίνυν τὸ θεώρημα δείκνυσιν, ὅτι δύο εὐθειῶν ἀλλήλας τεμνουσῶν αἱ κατὰ κορυφὴν γωνίαι ἴσαι εἰσίν, εὑρημένον μέν, ὥς φησιν Εὔδημος, ὑπὸ Θαλοῦ πρώτου. 
  ἡ εὐθεῖα <γραμμή> die Gerade | ἡ κορυφή - Scheitel, Gipfel, Spitze | ἡ κατὰ κορυφὴν γωνία - Scheitelwinkel | 
(20d)  Εὔδημος δὲ ἐν ταῖς Γεωμετρικαῖς ἱστορίαις [φρ. 87] εἰς Θαλῆν τοῦτο ἀνάγει τὸ θεώρημα· τὴν γὰρ τῶν ἐν θαλάττῇ πλοίων ἀπόστασιν δι' οὗ τρόπου φασὶν αὐτὸν δεικνύναι, τούτῳ προσχρῆσθαί φησιν ἀναγκαῖον.
   
"Eudemos führt in seiner Geschichte der Geometrie diesen Lehrsatz [Dritter Kongruenzsatz: Zwei Dreiecke, die in einer Seite und den anliegenden Winkeln übereinstimmen, stimmen in allen Stücken überein] auf Thales zurück. Denn bei der Art und Weise, auf die er die Entfernung der Schiffe auf hoher See bestimmt haben soll, erklärt Eudemos die Heranziehung desselben als unerlässlich." 

Eine von Th.Heath vorgeschlagene Rekonstruktion des Verfahrens, den Abstand von Schiffen nach dem 3. Kongruenzsatz zu bestimmen, referiert Heuser S. 14.

  • Dass diese vier Lehrsätze (θεωρήματα) von Thales stammen können, lässt sich weniger bezweifeln als der eigentliche "Thalessatz" (Diog.Laert. I 24 f.) Dazu tritt als sechste konkrete geometrische Leistung die vielgerühmte indirekte Höhenmessung der Pyramiden. (Heuser 14)
  • "Das eigentlich Mathematische, das völlig Neue und geradezu Revolutionäre der Thaletischen Theoreme ist nun aber nicht ihr Inhalt, - es ist vielmehr erstens die Tatsache, dass es überhaupt θεωρήματα sind, abstrakte, allgemeine Sätze, die auf keine Anwendung zielen, sondern sich selbst genügen als bloße Erkenntnisse, und zweitens die Tatsache, dass diese Sätze bewiesen werden (und nur deshalb als Erkenntnisse gelten können). Nichts dergleichen ist uns aus der babylonischen oder ägyptischen Mathematik bekannt. Diese Mathematik hat es immer nur zu tun mit partikulären Aufgaben des bürgerlichen und staatlichen Lebens. Da geht es um die Verteilung von Hab und Gut, um Erbschaften und Steuern, um die Vermessung von Äckern, um bautechnische Berechnungen und was dergleichen Erdhaftes mehr ist. Die Lösungsverfahren sind keine Verfahren: Sie bestehen lediglich darin, dass eine konkrete Aufgabe konkret gelöst wird; es wird noch nicht einmal gesagt, dass man bei analogen Aufgaben analog vorgehen soll. [...] Das ändert freilich nichts daran, dass die altorientalische Mathematik eine reiche Mathematik war. Und auf dieses beeindruckende und leistungsfähige corpus mathematicum stieß nun Thales spätestens während seiner Reisen in Ägypten und Babylon [...]. Die vier Thaletischen Theoreme, die uns von Proklos überliefert hat, sind nicht eine Fortbildung der ausgedehnten und schon ins 'Transzendente' reichenden orientalischen Mathematik - sie haben vielmehr einen durchaus 'elementaren' und 'grund-legenden' Charakter. Sie deuten auf [...] den Versuch des Thales hin, eine ungesicherten Mathematik ein festes Fundament zu geben." (Heuser 15 ff)
  • Über die möglichen Beweisverfahren des Thales stellt Heuser 17 f. von Proklos ausgehend folgende Vermutungen an:
    1. Die Methode des (geistigen!) Aufeinanderlegens, die in das Kongruenzaxiom, das 7. Axiom Euklids einmündet ("Was einander deckt, ist immer gleich");
    2. Widerspruchsbeweis: Er wird in der Regel zwar erst Parmenides zugeschrieben, findet sich aber immanent schon bei Kindern, bei Homer und in allen sprachlichen Antithesen. 
  • Da die Griechen ihre geometrischen Figuren in den Sand zeichneten, hatten sie eine klare Vorstellung von der Idealität der geometrischen Figur, für die ihre Theoreme gelten sollten. "Die Ägypter und Babylonier haben die 'idealen Objekte' nie gekannt: für sie war das Rechteck ein Feld, der Kreis ein Rad oder ein Brunnenrand, Ohne 'Idealisierung' aber konnte der bloße Gedanke logischen Beweises gar nicht gefasst werden - hier war der entscheidende Schritt zu tun." (Heuser 19)

 

8.) 11 A22 [a) Aristot.de anima A2.405a19; b) Aristot.de anima A5.411a7; c) Aet.IV 2,1 [Dox.386a,10]]
 
a)

ἔοικε δὲ καὶ Θαλῆς, ἐξ ὧν ἀπομνημονεύουσι, κινητικόν τι τὴν ψυχὴν ὑπολαβεῖν, εἴπερ τὸν λίθον ἔφη ψυχὴν ἔχειν, ὅτι τὸν σίδηρον κινεῖ.

  ἐξ ὧν = ἐκ τούτων, ἅ... - auf Grund dessen, was... | erwähne, berichte | κινητικός - bewegend, in Bewegung setzend  (τὸ κινητικόν - Bewegungsursache) | ὁ λίθος - Magnetstein (findet sich in Kleinasien)
b) καὶ ἐν τῷ ὅλῳ δέ τινες αὐτὴν [sc. τὴν ψυχήν] μεμεῖχθαί φασιν, ὅθεν ἴσως καὶ Θαλῆς ᾠήθη πάντα πλήρη θεῶν εἶναι.
  τὸ ὅλον - das Ganze, Weltall | πλήρης, πλῆρες - voll von
c) Θαλῆς ἀπεφήνατο πρῶτος τὴν ψυχὴν φύσιν ἀεικίνητον ἢ αὐτοκίνητον.
   

Nach Röd (32) bleibt dieser nicht-mechanische Erklärungsversuch noch ganz im Bereich des Mythos und zeigt, dass neben bemerkenswerten Ansätzen wissenschaftlichen Denkens noch deutlich mythische Vorstellungen stehen. Zutreffender Gadamer versteht (S. 518): "In der Natur selbst liegen die Kräfte, die ihr Geschehen und das Dasein der Menschen in der Natur bestimmen." Damit ist das Naturdenken initiiert, das im Gegensatz zu den wirkenden Göttern des Mythos alle wirkenden Kräfte naturimmanent versteht. 

Literatur und Materialien:

Stellungnahme von Wal Buchenberg 

Platon und der archē-Begriff der Naturphilosophen

Lieber Herr Gottwein,

Sie zitieren in Ihrem Thales-Kapitel sowohl Hegel wie Schadewaldt, die beide zur Quellenlage ganz unterschiedliche Positionen beziehen. Hegel beruft sich ausdrücklich auf Aristoteles, wobei er - und das kann im einzelnen leicht belegt werden - Aristoteles nur soweit heranzieht, als es ihm in sein Konzept passt. (Der auffälligste Widerspruch zwischen Hegel und Aristoteles ist die Frage der "Beseelung" der Natur bei Thales, die Aristoteles zweimal erwähnt, Hegel aber völlig ignoriert).

Schadewaldt lehnt dagegen Aristoteles als Quelle für Thales ausdrücklich ab: "Schwierig wird es z. B., wenn es von Thales heißt, er habe als archē von allem das Wasser gesetzt. Hat er wirklich diesen Ausdruck archē gebraucht, oder nimmt der Berichtende den ihm geläufigen Ausdruck für die Interpretation dessen, was der andere gesagt hatte? Die Philosophiegeschichte hat diese Behauptung meistens gläubig hingenommen, noch bis in die neuesten Handbücher. Und doch ist wahrscheinlich in dieser Aussage jedes Wort falsch..... Hier ist retrospektiv etwas in ein Denken ganz anderer Art hineinprojiziert worden, und so werden Thales Begriffe in den Mund gelegt, von denen er keine Ahnung hatte." (S. 214).

Ich kann Schadewaldt folgen, wenn er bei Thales von einem "Denken ganz anderer Art" spricht. Wer aber geht in der Quellenkritik so weit, zu behaupten, ein indirektes Zitat oder ein Bericht aus später Zeit seien "ganz falsch" und daher für die Wissenschaft unbrauchbar? Kein Historiker nimmt irgendeine Quelle als bare Münze. Der prinzipielle und generelle "Ideologieverdacht" von Schadewaldt gegen Aristoteles entspricht nicht dem "historischen Handwerk" und verschließt jeden Zugang zu Thales und zu dem archē-Begriff außer einem subjektiv beliebigen. Mit so einer Position ist nichts wirklich anzufangen.

Gehen wir also davon aus, dass diese Position nur polemisch als Denkanstoß gemeint ist - nehmen wir als Denkansatz von Schadewaldt, dass zwischen Thales und den Naturphilosophen auf der einen Seite und Platon und Aristoteles auf der anderen Seite eine philosophische Gegnerschaft besteht.

Es gibt bei Platon in den "Nomoi" eine ausdrückliche Auseinandersetzung mit den Naturphilosophen, die auch eindeutige Rückschlüsse auf Thales erlaubt. Es handelt sich dort nicht um beiläufige Bemerkungen, sondern um eine zentrale Frage des 10. Buches über die Existenz der Götter. Die Naturphilosophen werden dort von Platon nicht nur als philosophische Gegner, sondern auch als Feinde einer guten Staatsverfassung hingestellt, und als Kern ihrer Lehre wird der archē-Begriff benannt: "Wer nämlich das behauptet, scheint Feuer und Wasser und Erde und Luft für archē von allem anzusehen und eben dieses die Natur zu nennen, die Seele aber, als aus diesen entstanden, für eine spätere Sache zu halten." Der archē-Begriff der Naturphilosophen wird "gleichsam als die Quelle der unsinnigen Meinung derjenigen ausfindig gemacht, welche jemals mit Untersuchungen über die Natur sich beschäftigten".

Platon begab sich dann gleichsam auf das Kampffeld seiner philosophischen Gegner, wenn er im folgenden den archē-Begriff aufgreift und versucht, ihn aus dem philosophischen Zusammenhang der alten Naturphilosophie zu lösen: Seine Widerlegung beginnt damit, dass zunächst die Menschenwelt als der Naturwelt überlegen dargestellt wird, weil in der Menschenwelt Verstand bzw. "Seele" waltet: "Meinung aber und Fürsorge und Vernunft und Kunst und Gesetz dürften wohl früher sein als das Harte und Weiche und Schwere und Leichte; und so würden wohl auch die großen und ersten Werke und Handlungen, die unter den Ersten sind, der Kunst zugehörig; die von Natur aber und die Natur... dürften später sein und ihren Anfang von Kunst und Vernunft herrühren." Dieser Gesichtspunkt, dass menschlicher Verstand und menschliche Technologie der Naturwelt und den Naturkräften überlegen seien, konnte erst auf einer gewissen Höhe der gesellschaftlichen Entwicklung der Griechen entstehen. Es ist ein "moderner" Gesichtspunkt, der die gesamte Philosophie des Platon und des Aristoteles durchzieht: Sie nehmen die technologisch-zweckbestimmte Welt der menschlichen Arbeit (und Kunst) als Modell der Welterklärung, die sie auch auf die Naturwelt übertragen. Das frühe, landwirtschaftlich und biologistisch orientierten Denken der Alten hatte dagegen umgekehrt die Naturwelt als einen sich selbst steuernden Organismus begriffen und diese Vorstellung zur Ausgangspunkt ihrer Theorien auch über die Menschenwelt gemacht - so z. B. in der Medizin des Hippokrates.

Von seinem "modernen" technologischen Ausgangspunkt interpretierte Platon den alten archē-Begriff um, und entwickelte in den "Nomoi", dass die Seele und nicht irgend ein immanenter Teil der Natur archē von allem sei. Platon ging dabei logisch deduktiv vor, indem er aus einer Hierarchie der Bewegungsarten (Kreisbewegung als gleichmäßige stationäre Bewegung, mechanische Bewegungen als ungleichmäßige von außen bewirkte Bewegung und Leben als Selbstbewegung) schloss, dass die Selbstbewegung des Lebens, die von der Seele stamme, "notwendig die älteste und mächtigste aller Veränderungen" sei. Die Seele sei daher "früher entstanden als die Länge, Breite und Dicke" und damit vor jedem Körper.

Platon verwendete dabei den archē-Begriff einerseits im Sinne von Ursprung (Erstanfang) wie auch als herrschendes Prinzip: "Seele also leitet alles am Himmel, auf der Erde und im Meer durch die ihr eigenen Bewegungen...." Aber er verzichtete notwendigerweise auf den biologistischen Entwicklungsgedanken des traditionellen archē-Begriffs.

Zweierlei lässt sich daraus ersehen. Erstens nahm Platon die Naturphilosophen als ideologische Gegner, nicht einfach als "Vorgänger" oder Lehrmeister:

Er äußerte offen Abscheu und Hass gegen sie, wenn er über die Gottesleugner sagte - und die Naturphilosophen behandelte er als erste und wichtigste Sorte der Gottesleugner- : "Doch sprich, wie möchte wohl jemand ohne inneren Unwillen den Beweis führen, dass die Götter sind? Muss man doch notwendig es übel empfinden und diejenigen hassen, welche zu solchen Reden uns die Veranlassung gaben und noch jetzt geben..." Im "Timaios" wurden die alten Naturphilosophen zwar nicht mit Hass, aber mit reichlich Spott bedacht: Dort wird nach der Erschaffung des Mannes und der Frau noch die Erschaffung der Naturphilosophen beschrieben: "Zum Geschlecht der Vögel aber, welchen statt der Haare Federn wachsen, gestalteten sich Männer von zwar harmlosem, aber leichtem Sinne, welche wohl mit den Erscheinungen am Himmel sich beschäftigten, aber aus Geistesbeschränktheit meinen, die auf den Augenschein sich gründenden Schlüsse über dieselben seien die zuverlässigsten."

Zwar referierte Platon im "Timaios" eine eigene Naturtheorie in deutlicher Distanz zu den vorsokratischen Naturphilosophien, in den "Nomoi" aber wird jede Naturphilosophie generell und grundsätzlich abgelehnt: "Wir behaupten, dem höchsten Gotte und dem ganzen Weltall dürfe man nicht nachforschen, noch durch Aufspüren der Gründe, seine Wissbegier zu weit treiben, denn das sei nichts Gottgefälliges." Er sagte dort über die Naturphilosophen, es sei zu vermuten, "dass diejenigen, welche in der Sternkunde und den anderen dazu erforderlichen Künsten mit dergleichen Gegenständen sich beschäftigen, zu Gottesleugnern werden würden, nachdem sie, wie sie glauben, erkannten, dass die Dinge der Notwendigkeit gemäß entstehen, nicht durch die Absicht eines Willens, der mit Vollendung des Guten beschäftigt ist." "Im Hinblick auf das vor Augen Liegende erschien ihnen nämlich alles am Himmel sich Bewegende voll zu sein von Steinen, Erde und vielen anderen unbeseelten Körpern, welche die Ursachen des ganzen Weltalls verteilen. Das war es, was damals viele Gottlosigkeiten hervorrief..."

Zweitens nahm Platon den archē-Begriff ernst und er verstand ihn wie Aristoteles als den zentralen Begriff der Naturphilosophie, während er in ihrer eigenen Philosophie so gut wie keine Rolle spielte. Vielmehr stand im Zentrum von Platons Denken wie bei Aristoteles das technologische Ursachendenken (aitia): "Alles Entstehende muss ferner notwendig aus einer Ursache entstehen." Und: "Von dem Gewordenen aber behaupten wir ferner, dass es notwendig aus einer Ursache hervorging."

Jede Ursache hat aber einen personalen Urheber ("Werkmeister"), der dem totem Material Gestalt gibt, indem er seinen Plan als Zweck verfolgt. Das Ursachendenken ist aus dem menschlichen Arbeitsprozess entwickelt und teilt dessen Dialektik von personalem Urheber - Plan/Zweck (=ideales Sein) - Mittel (Werkstoff und Werkzeug) - Arbeitsprozess (=Werden) - Produkt (=wirkliches Sein).

Der Paradigmenwechsel in der Philosophie von Thales zu Platon ist ein Wechsel vom landwirtschaftlich-biologistischen Denken, das Naturkräfte zum Ausgangspunkt der Welterklärung nahm, zum technologisch orientierten Denken, das die menschlichen Fähigkeiten zur Grundlage der Welterklärung machte. Notwendige Voraussetzung dafür war eine gewisse Emanzipation der Menschen von den Naturkräften durch die Entwicklung der städtisch-handwerklichen Warenproduktion. Die Griechen hatten eine gewisse Höhe in dieser Entwicklung als erste erreicht. Daher haben zwar die vorsokratischen Naturphilosophien vieles mit den Naturtheorien in anderen Kulturen gemein, wie zum Beispiel mit der chinesischen Philosophie, das technologisch-zweckbestimmte Denken eines Platon und Aristoteles blieb dagegen eine griechische Pionierleistung.

Mit freundlichen Grüßen!

Ihr Wal Buchenberg

1. Platon, Nomoi, 10. Buch, 891 a. 
2. Platon, Nomoi, 10. Buch; 891 a. 
3. Platon, Nomoi, 10. Buch; 892 b. 
4. Platon, Nomoi, 10. Buch, 895 a. 
5. Platon, Nomoi 10. Buch 896 d.
6. Platon, Nomoi, 10. Buch, 897 a.
7. Platon, Nomoi, 10. Buch, 887 d.
8. Platon, Timaios, 91 d.
9. Platon, Nomoi, 7. Buch, 821 a.
10. Platon, Nomoi, 12. Buch, 967 a.
11. Platon, Nomoi, 12. Buch, 967c.
12. Platon, Timaios, 27 d.
13. Platon, Timaios, 28 c.

 

Knappe Antwort an Herrn Buchenberg

Lieber Herr Buchenberg,

Sie scheinen mir Schadewaldt ganz falsch zu verstehen. 

  • Ihre Schlussfolgerung "Schadewaldt lehnt dagegen Aristoteles als Quelle für Thales ausdrücklich ab" schüttet das Kind mit dem Bade aus. Das Gegenteil ist der Fall. 
  • Ihre Bemerkung, ein indirektes Zitat oder ein Bericht aus später Zeit seien "ganz falsch" und daher für die Wissenschaft unbrauchbar: die erste Hälfte ihres Satzes zitiert nicht richtig: Schadewaldt spricht von der "Aussage" und nicht von dem "Zitat", was ich für einen wichtigen Unterschied halte. Die zweite Hälfte ist ihr eigener Zusatz, der Schadewaldt wieder auf den Kopf stellt: Ganz in Ihrem Sinne meint aber Schadewaldt, dass die meisten bisherigen Interpreten ihr "historisches Handwerk" zu wenig verstanden und die aristotelische Begrifflichkeit zu unkritisch auf Thales übertragen haben.
  • Die Annahme einer "philosophischen Gegnerschaft" zwischen Thales und Aristoteles trifft weder philosophiegeschichtlich zu noch wird sie von Schadewaldt behauptet. Sie ist also auch als Arbeitshypothese ungeeignet. [Was Aristoteles von dem doxographischen Exkurs zu den Vorsokratikern erwartet, umreißt er Aristot.Met.983a26-983b6]. 
  • Eine Untersuchung des Wortgebrauchs des Wortes ἡ ἀρχή ergibt als frühest mögliche Belegstelle im Sinne des philosophischen Terminus "Prinzip" den berühmten Satz des Anaximander (12 B1). Persönlich halte ich diesen Beleg nicht für verifizierbar und habe meine Gründe zu 12 A9 ausgeführt.
  • Besonders deutlich ist das retrospektive Verfahren des Aristoteles bei dem Begriff ὕλη, zu dem die Geburtsurkunde in Aristot.Met.1069b3-1069b34 vorliegt. 
  • Ihre Behauptung, dass der ἀρχή-Begriff  in der eigenen Philosophie von Platon und Aristoteles so gut wie keine Rolle spiele, verwundert mich. Ich verweise nur auf den Anfang des 12. Buches der Metaphysik (Περὶ τῆς οὐσίας ἡ θεωρία· τῶν γὰρ οὐσιῶν αἱ ἀρχαὶ καὶ τὰ αἴτια ζητοῦνται. - "Die Substanz ist Gegenstand unserer Betrachtung: Untersucht werden die Prinzipien und Ursachen der Substanzen"). Zu Platon erinnere ich nur daran, dass er es als Ziel seiner Philosophie definierte,  ἐπ' ἀρχὴν ἀνυπόθετον zu gelangen. 
  • Mit der Platonstelle aus den Nomoi kann ich mich bei Gelegenheit gründlicher auseinandersetzen. Hier schon vorweg: 
    • Keiner stellt in Abrede, dass die vorsokratischen Philosophen über die ἀρχή nachgedacht haben. Insofern kann sich Platon sehr intensiv mit dem vorsokratischen ἀρχή-Denken auseinandersetzen, und hat das nicht nur in den Nomoi getan. 
    • Was aber daraus nicht hervorgeht ist, das Thales den Begriff ἀρχή im Sinne eines philosophischen "Prinzips" verwendet habe, wie er sich zwangsläufig einstellt, wenn Aristoteles den Begriff verwendet. 
    • Nur auf diese Differenz hat Schadewaldt aufmerksam gemacht, und damit gehen sie doch konform, wenn Sie von dem prinzipiellen "Ideologieverdacht" als dem Handwerkszeug des Interpreten sprechen. 

Mit freundlichem Gruß
E.G.

Sententiae excerptae:
Griech. zu "Thales"
Literatur:
zu "Thales"
1445
Capelle, W.
Die Vorsokratiker. Die Fragmente und Quellenberichte , übersetzt und eingeleitet von...
Stuttgart (Kröner, TB 119) 7/1968

1447
Diels, H. / Kranz, W.
Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und deutsch, I-III [maßgebliche Ausgabe der Vorsokratiker]
Belin (Weidmann) 1960

2383
Fraenkel, H.
Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums. Eine Geschichte der griechischen Epik, Lyrik, Prosa bis zur Mitte des fünften Jahrhunders
New York 1951; München (Beck) 1962

1449
Fränkel, H.
Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums. Eine Geschichte der griechischen Epik, Lyrik und Prosa bis zur Mitte des 5. Jhs.
München (Beck) 2/1962

2400
Heath, Th.
A History of Greek Mathematics. I: From Thales to Euclid
Oxford 1921, Ndr. 1960

1443
Hölscher, U.
Anfängliches Fragen. Studien zur frühen griechischen Philosophie
Göttingen (V&R) 1968

312
Meyerhöfer, H.
Homer. Lyrik. Vorsokratiker (Thales. Anaximander. Pythagoras. Xenophanes. Parmenides. Heraklit
in: Erwachen.., Donauwörth 1976

1437
Schadewaldt, W.
Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen. Tübinger Vorlesungen Bd. I
Frankfurt/M (Suhrkamp) 1/1978

1441
Schirnding, A.v.
Am Anfang war das Staunen. Über den Ursprung der Philosophie bei den Griechen
München (Kösel) 1978


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