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Omnibus hoc vitium est cantoribus, inter amicos | Sämtliche Sänger entstellt der Fehler, dass unter den Freunden, |
Ut numquam inducant animum cantare rogati, | Bittet man, niemals sie den Entschluss sich fassen zu singen, |
Iniussi numquam desistant. Sardus habebat | Ungeheißen jedoch nicht ermüden. Des Sarders Gewohnheit, |
Ille Tigellius hoc. Caesar, qui cogere posset, | Jenes Tigellius, war's. Selbst Caesar, zu zwingen im Stande, |
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- hoc bereitet das konsekutive ut im nächsten Vers vor
- animum induco cantare - entschließe mich, raffe mich auf zu singen | rogati - wenn man sie darum (gebeten hat) bittet
- iniussus - ungeheißen (Antithese zu rogati; ein von Horaz neu gebildetes Wort) | desistant sc. <cantare> | Die Sarden hben keinen guten Ruf bei den Römern.Sie gelten als liederlich und unzuverlässig.
- ille - peiorativ: jener berühmt-berüchtigte | Tigellius - Musikvirtuose mit entsprechenden Starallüren, der in Rom in den höchsten Kreisen verkehrte | Caesar - gemeint ist Octavianus (Augustus) | qui ... posset - Der Konjunktiv ist nicht ganz eindeutig: entweder Relativsatz mit adverbialem Nebensinn (konzessiv) oder (wie die folgenden Konjunktive peteret, proficeret) Potentialis der Vgh.
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5 |
Si peteret per amicitiam patris atque suam, non | Bat bei des Vaters er und der eigenen Freundschaft, es wurde |
Quicquam proficeret; si conlibuisset, ab ovo | Nie nur das Mindste erreicht. Gab's ein ihm die Laune, vom Ei an |
Usque ad mala citaret 'Io Bacchae' modo summa | Bis zum Apfel erscholl es "Io Bacchae!" mit dem höchsten |
Voce, modo hac, resonat quae chordis quattuor ima. | Ton, mit tiefstem jetzt, der entrauscht vierfacher Besaitung. |
Nil aequale homini fuit illi: saepe velut qui | Nichts Gleichmäßiges war an dem Menschen; zuweilen, wie jener, |
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- per amicitiam - unter Berufung auf die Freundschaft
- ab ovo usque ad mala (sprichwörtlich)
- Bacchae - Mänaden, die in exstatischem Zug (Thiasus) den Bacchus begleiten
- resonat - denn chorda sonum reddit, quem volt manus ac mens | chordis - abl.sep. ('von den Saiten her')
- nil aequale = nulla aequalitas, nulla aeqa mens | homini illo - sc. Tigellio | velut <is>, qui ...
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10 |
Currebat fugiens hostem, persaepe velut qui | Der zu entfliehn vor dem Feind sich beeilte, gar oftmals, als führt' er |
Iunonis sacra ferret; habebat saepe ducentos, | Junos heilige Weih'n; nun besaß er der Sklaven zweihundert, |
Saepe decem servos; modo reges atque tetrarchas, | Nun nur den zwanzigsten Teil; und Könige bald und Tetrarchen |
Omnia magna loquens, modo 'sit mihi mensa tripes et | Polterte prahlend sein Wort, bald "O nur ein ärmliches Tischlein, |
Concha salis puri et toga, quae defendere frigus | Von ungemischtem Salz nur ein Fässchen, ein Mantel, wie grob auch, |
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- Denke: Persaepe Tigellius currebat velut is, qui hostem fugiens currit: wer flieht, läuft möglichst schnell
- Iunonis sacra ferre - die heiligen Geräte der Iuno tragen: in Prozessionszügen läuft man andächtig und verhalten | ducentos servos, wie ein orientalischer Machthaber
- decem servos - wie ein einfacher, wenn auch nicht unbegüterter Bürger. Darunter wäre für Tigellius nicht in Frage gekommen (beide Zahlen sind als runde Zahlen zu verstehen) | reges atque tetrarchas - ist eine häufige Verbindung (um keine Nuancierung orientalischer Machtentfaltung auszusparen)
- omnia magna - lauter Großes, als Verallgemeinerung von reges atque tetrarchas | loquor - führe im Munde | die mensa tripes ist geradezu simpel gegenüber den modischen monopodia
- Alle Utensilien betonen naturbelassene Einfachheit: Muschel,statt silbernes Salzfass; Salz, dem keine Aroma beigemischt wurde, Toga als Kleidung, nicht um Staat zu machen, sondern um nicht zu frieren.
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15 |
Quamvis crassa queat.' Deciens centena dedisses | Welcher vor Kälte bewahrt!" Gabst du zehntausend Sesterzen |
Huic parco, paucis contento, quinque diebus | Unserem sparsamen Freund, dem mit Wen'gem Zufriednen: fünf Tage |
Nil erat in loculis; noctes vigilabat ad ipsum | Leerten die Börse durchaus. Schlaflos durchschwärmt er in Nächte |
Mane, diem totum stertebat; nil fuit unquam | Bis zum Morgen, durchschnarchte den Tag, nichts war in der Welt je |
Sic inpar sibi. Nunc aliquis dicat mihi 'quid tu? | So uneins mit sich. Jetzt sagt mir wohl einer: "Wie du nun? |
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- deciens cetena sc. <milia sestertium> 1 Million Sesterze | <si> dedisses - die verkürzte Hypotaxe vermittelt den Eindruck umgangssprachlicher Parataxe
- parco paucis - Wortspiel | quinque diebus - nach fünf Tagen (nach einer Woche)
- loculus, loculi m - Geldbeutel | ad ipsum mane - bis zum frühen Morgen (üblich ist sonst nur 'a mane')
- nil (nihi) steht im Sinne von nemo
- inpar sibi, nachgeahmt von Sen.epist.20,22. | aliquis führt einen konkreteren Gesprächspartner ein, der eine Gegenposition aufbaut: Er entlastet Tigellius, indem er die Vorwürfe an den Kritiker zurückgibt: Auch du hast doch deine Fehler | dicat - potentialer Konjunktiv.
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20 |
Nullane habes vitia?' immo alia et fortasse minora. | Hast du denn gar kein Gebrechen?" Wohl andre und - iire ich nicht - kleinre. |
Maenius absentem Novium cum carperet, 'heus tu' | Maenius schmähte den Novius einst, den entfernten: "Gemach!" ruft |
Quidam ait 'ignoras te an ut ignotum dare nobis | Einer entgegen, "verkennt du dich? oder vor uns wie ein Fremdling |
Verba putas?' 'egomet mi ignosco' Maenius inquit. | Meinst du zu reden?" Doch Maenius spricht, "Mir schenk ich Verzeihung." |
Stultus et inprobus hic amor est dignusque notari. | Schlecht ist die Liebe der Art und töricht und würdig der Ahndung. |
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- alia ... klingt ausweichend (schon, aber ... doch entschuldbare)
- Maenius ist ein aus den Satiren des Lucilius bekannter bissiger Spötter. Novius ist sonst unbekannter Wucherer.
- Wortspiel mit ignoras ... ignotum ... ignosco | te ist einmal Objekt zu ignoras, außerdem Subjektsakkusativ im aci:: te dare putas?
- egomet mi ignosco - Zitat aus Lucilius: Selbtgerechte Zurückweisung des Vorwurfs, selbst nicht ohne Fehl und Tadel zu sein. Im Vergleich zu dem Balken im Auge des Tigellius habe ich höchstens einen entschuldbaren Splitter im Auge.
- amor sc. <sui> - Selbstliebe
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25 |
Cum tua pervideas oculis mala lippus inunctis, | Wenn du dich selbst dzrchschaust triefäugig, gesalbeten Blickes, |
Cur in amicorum vitiis tam cernis acutum | Wie bei der Freunde Versehn hast du dann schärfere Augen, |
Quam aut aquila aut serpens Epidaurius? at tibi contra | Als epidaurische Schlange und Adler? Doch dich zur Vergeltung |
Evenit, inquirant vitia ut tua rursus et illi. | Trifft's, dass deine Versehen auch jene dir wieder herausspähn. |
Iracundior est paulo, minus aptus acutis | Über Gebühr zum Zorn neigt einer, der scharfen Verspottung |
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- pervideo - die Präposition per- verstärkt die Bedeutung des Simplexverbums (ironisch, denn mit oculi iniuncti sieht man schlechter). | mala ist stärker als vitia: der Kritiker löst die Beschönigung des Sprechers also auf.
- Vergl. aus der griech. Komödie: τἀλλότριον κακὸν ὀξυδορκεῖς, τὸ δ' ἴδιον παραβλέπεις. | amicorum - die Beschränkung auf die amici wird von Horaz im Folgenden beibehalten. Man darf den Begriff aber nicht zu eng fassen: Freunde sind fast alle, mit denen man umgeht. | acutum - adverbialer acc.sgl.ntr.
- Adler und Schlange gelten als scharfsichtige Tiere (δράκων ist etymologisch mit δέρκομαι verbunden). | Epidaurius ist eine Konkretisierung der Schlange, da sie in Epidauros im Asklepioskult ihre markanteste Verwendung findet. | at ... contra ... - widerlegt nicht, sondern stellt ein Gegenbild auf.
- Das Motiv, dass Kritik Gegenkritik provoziert, wird ab Vs. 66 an der Gestalt des Maenius weiter ausgeführt.
- est - da ist einer, der ... (eine eher fiktive als konkrete Einzelperson) | minus - nicht recht | acutae nares - feine, scharfe Nasen = feiner Scharfsinn
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30 |
Naribus horum hominum; rideri possit eo quod | Unserer Zeiten bequem er sich nicht; leicht werd' er verlachet, |
Rusticius tonso toga defluit et male laxus | Weil ihm mit bäurischem Haar abfließt das Gewand, und zu sorglos |
In pede calceus haeret: at est bonus, ut melior vir | Hängt am Fuße der Schuh. Doch ist er ja gut, dass ein bessrer |
Non alius quisquam, at tibi amicus, at ingenium ingens | Kaum wohl sonst in der Welt, ist Freund dir, ist an Talent groß |
Inculto latet hoc sub corpore. Denique te ipsum | Unter des Äußeren plumper Gestalt. Jetzt endlich dich selbst, Freund, |
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- horum hominum - der jetzigen Menschen | eo, quod ... = ideo, quod ... |
- rusticius ist zu tonso zu ziehen | toga defluit - d.h. ist nicht sorgfältig in Falten gelegt
- haerere - haften, von Kleidungsstücken ist die lat. Ausdrucksweise fürunser 'sitzen', das Negative wird erst durch male laxus hinzugefügt | at est bonus - dieser Vorzug wiegt die genannten Mängel auf. Exemplarisch wird deutlich, wie man tadeln soll: Das Gute und das Schlechte gegeneinander aufwiegen
- ingenium - in diesem Wort sind alle Vorzüge versammelt, alle Mängel in corpus.
- denique - und ferner
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35 |
Concute, numqua tibi vitiorum inseverit olim | Rüttele durch, ob dir die Natur denn gar kein Gebrechen |
Natura aut etiam consuetudo mala; namque | Bei der Geburt einflößt', ob böse Gewohnheit; da Acker, |
Neglectis urenda filix innascitur agris.
| Ist er verwahrlost, leicht ja erzeugt zu verheerendes Farnkraut. |
Illuc praevertamur, amatorem quod amicae | Darauf vor allem gesehen, wie dem Buhler verblendeten Auges |
Turpia decipiunt caecum vitia aut etiam ipsa haec | Oft ein entstellendes Mal an der Freundin entgehet, sogar auch |
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- concutere - anschlagen, zur Qualitätsprüfung bei Tongefäßen: Was man außen sieht, ist nicht zuverlässig, man muss innen hineinhören. | olim - seinerzeit, bei der Geburt (vitia: natura - φύσις)
- und dann schlechte Angewohnheiten (mala: consuetudo - ἔθος) | namque - begründendes Parallelbeispiel aus der Natur
- filix - Farnkraut: Gegen Unkraut, das sich erst einmal festgesetz hat, hilft nur noch das Feuer
- praevertor illuc - wende mich eher diesem Punkt zu | quod ist faktisches quod - (was das angeht,) dass ...
- turpia vitia - entstellende körperliche Mängel | decipere - h. unbemerkt, verborgen bleiben
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40 |
Delectant, veluti Balbinum polypus Hagnae. | Höchlich erfreut, gleich wie Balbinus der Hagna Polyp reizt, |
Vellem in amicitia sic erraremus et isti | Möchten wir so uns auch in der Freundschaft irren, und Tugend |
Errori nomen virtus posuisset honestum. | Jene Verirrung versehn mit wohlanständ'ger Benennung! |
Ac pater ut gnati, sic nos debemus amici | Ja wie der Vater beim Sohn, so sollten auch wir, wo ein Fehltritt |
Siquod sit vitium non fastidire. Strabonem | Etwa am Freunde sich zeigt, nicht Ekel empfinden. Den Schieler |
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- Balbinus - unbekannter Liebhaber der Hagne. Hagne (Ἅγνη) ist ein häufiger Name von weiblichen Freigelassenen.
- vellem ... erraremus - optativus: unerfüllbarer Wunsch der Gegenwart: Freundschaft ist keine Liebesbeziehung.
- In der Freundschaft gilt nach dem rigorosen virtus-Gebot Beschönigung leider nicht als honestum, sondern als adsentatio (vgl.
Cic.Lael.89) - at - wenigstens aber (Elternliebe als Konsequenz aus der Unerfüllbarkeit des weitergehenden Wunsches)
- strabo, detortis qui est oculis, paetus leniter declinatis, Porph.
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45 |
Appellat paetum pater, et pullum, male parvus | Nennt Queräugler der Vater, und Hühnchen, wenn garstig verzwergt ist |
Sicui filius est, ut abortivus fuit olim | Einem der Sohn, wie geborn als halbentwickelter weiland |
Sisyphus; hunc Varum distortis cruribus, illum | Sisyphus war; denn Grätschler mit säbelnden Beinen und jenen |
Balbutit Scaurum pravis fultum male talis. | Hätschelt er Klumpfüßlein mit hässlich verbildeten Knöcheln. |
Parcius hic vivit: frugi dicatur; ineptus | Jemand lebt dir zu karg: haushälterisch heiß' er. Geschmacklos |
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- Eine besondere Pointe liegt darin, dass alle genannten körperlichen Gebrechen auch als conomina gebräuchlich sind: Strabo, Paetus, Pullus, Varus, Scaurus.
- abortivus - zu früh geboren, Frühchen
- Sisyphus - M.Antonius soll von den zwergartigen Menschen, die er aus Syrien mitgebracht hatte, einen wegen seiner Gerissenheit Sisyphus genannt haben | vari appellantur introrsum retortis pedibus, Porph. Euphemismus für Verrenkung der Beine
- scauri sunt qui extantes (herausstehende) talos habent, Porph, Euphemismus für Verkrüppelung der Knöchel
- parce vivere wird erst durch den Komparativ tadelnswürdig
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50 |
Et iactantior hic paulo est: concinnus amicis | Einer und zu prahlhaft; dass den Freunden er artig und liebreich |
Postulat ut videatur; at est truculentior atque | Scheine, begehrt er allein. Doch hat er zu polternde Art und |
Plus aequo liber: simplex fortisque habeatur; | Über Gebühr Freisinn: grad werd' er geheißen und kräftig. |
Caldior est: acris inter numeretur. Opinor, | Hitziger ist er: er sei zu den Feur'gen gerechnet. Ich meine, |
Haec res et iungit iunctos et servat amicos. | Dies ist's, welches vereint und in Eintracht schützet die Freunde. |
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- iactans - angeberisch, aufdringlich |
- postulat, ut videatur = postulat videri
- plus aequo liber - über das zu billigende Maß hinaus freimütig | simplex - gerade heraus
- caldus (= calidus) - Hitzkopf | acer - tatkräftig, engagiert
- Zusammenfassung: Beschönigendes Hinwegsehen über Kritikwürdiges stiftet und erhält Freundschaften
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55 |
At nos virtutes ipsas invertimus atque | Doch wir zeigen ja selbst auch Tugenden gerne verkehrt, und |
Sincerum furimus vas incrustare. Probus quis | Trachten ein reines Gefäß mit Schmutz zu betünchen. Wer sittsam |
Nobiscum vivit, multum demissus homo: illi | Mit uns im Leben verkehrt, sehr kleinlaut ist er, und jener, |
Tardo cognomen, pingui damus. Hic fugit omnis | Welcher bedächtig, er wird zubenannt stumpfsinnig. Du meidest |
Insidias nullique malo latus obdit apertum, | Jeglicher List, beutst nicht dem Verleumder offene Seite, |
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- inverto - stelle auf den Kopf (münze eine virtus um in ein vitium)
- der Vergleich mit dem Verkalken eines Gefäßes wird mit atque angeschlossen, um die Identität beider Handlungsweisen zu betonen | quis = aliquis
- multum - adv., steigert demissus | demissus - bescheiden
- tardus - langsam, zögerlich, Schwachkopf | pinguis - fett, feist, Dummkopf
- nulli malo <viro>
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60 |
Cum genus hoc inter vitae versemur, ubi acris | Hast Verkehr mit der Welt diesseitigem Treiben, wo regsam |
Invidia atque vigent ubi crimina: pro bene sano | Missgunst blüht empor und Beschuldigung: statt gar vernünftig |
Ac non incauto fictum astutumque vocamus. | Und nicht ohne Bedacht, heißt falsch und verschmitzt du den unsern. |
Simplicior quis et est, qualem me saepe libenter | Wer zu einfach und schlicht (wie oftmals ich mit Verlangen |
Obtulerim tibi, Maecenas, ut forte legentem | Dir mich genannt, oh Maecenas!) dass etwa beim Lesen |
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- cum - kausal zu fugit (od. weniger gut adversativ zu vocamus) | genus hoc inter vitae - ordne: inter hoc genus vitae - unter diesen heutigen Lebensverhältnissen, im Gegensatz zur unverdorbenen alten Zeit oder zum Leben auf dem Land
- vorsichtige Zurückhaltung wird als duckmäuserische Verstellung ausgelegt
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65 |
Aut tacitum inpellat quovis sermone: 'molestus, | Oder vertieft er dich stört durch müßige Worte: "Der Läst'ge! |
Communi sensu plane caret' inquimus. Eheu, | Menschenverstand geht völlig ihm ab!" So rufen wir. Wehe! |
Quam temere in nosmet legem sancimus iniquam. | Wie rasch gegen uns selbst anordnen wir strenge Gesetze! |
Nam vitiis nemo sine nascitur; optimus ille est, | Ist ja von Fehlern befreit kein Sterblicher; der ist der Beste, |
Qui minimis urgetur. Amicus dulcis, ut aequum est, | Den die geringsten entstellen. Ein liebender Freund, nach dem Rechte |
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- communi sensu - Takt
- temere - unbesonnen
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70 |
Cum mea conpenset vitiis bona, pluribus hisce, | Wäg' er das Gute von mir mit dem Laster: zur Mehrheit von jenem, |
Si modo plura mihi bona sunt, inclinet, amari | Sollte des Guten in mir mehr sein, hinneig' er; gefall' ich |
Si volet: hac lege in trutina ponetur eadem. | Dieses Bedings ihm als Freund, sei geschätzt er nach gleichem Gewichte. |
Qui, ne tuberibus propriis offendat amicum, | Wenn, dass den Freund er nicht durch die eignen Geschwülste verletze, |
Postulat, ignoscet verrucis illius: aequum est | Jemand verlangt, so verzeiht er die Warze des Freundes, gerecht ist, |
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- cum - Präpos. zu vitiis | pluribus hisce (dat.) inclinare - sich diesen, die im Übergewicht sind, zuneigen
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75 |
Peccatis veniam poscentem reddere rursus. | Wer für Versehn Nachsicht sich erholt, dass zurück er sie gebe. |
Denique, quatenus excidi penitus vitium irae, | Endlich da nicht ganz ausgerottet das Laster des Zornes, |
Cetera item nequeunt stultis haerentia, cur non | Noch auch das übrige wird in der Toren Gefolge; warum nicht |
Ponderibus modulisque suis ratio utitur ac res | Braucht die Vernunft ihr eigenes Maß und Gewicht, und beschränket |
Ut quaeque est, ita suppliciis delicta coercet? | Wie es ist Sache verlangt, durch Bestrafungen jede Vergehung? |
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- stultis - (Dat. abhg. v. haerentia, anhaften) die Fehler begehenden Menschen; alle Menschen irren nach der Lehre der Stoa, nur der Weise nicht
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80 |
Siquis eum servum, patinam qui tollere iussus | Jemand gebe Geheiß, dass der Sklav' abtrage die Schüssel, |
Semesos piscis tepidumque ligurrierit ius, | Dieser belecke den Rest vom Fisch und die lauische Brühe, |
In cruce suffigat, Labeone insanior inter | Am Kreuz büßte er ab, unvernünftiger unter Vernünftgen |
Sanos dicatur. Quanto hoc furiosius atque | Wahrlich als Labeo hieß' er. Wie viel wahnsinniger ist nicht |
Maius peccatum est: paulum deliquit amicus, | Dieses und ärgere Schuld; im Kleinsten versah es ein Freund nur, |
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- tollere - vom Abtragen der Speisen
- Labeo - für seinen Starrsinn bekannt | inter sanos dicatur - verständige Leute sollen ihn noch rasender nennen als Labeo
- hoc - Nom.
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85 |
Quod nisi concedas, habeare insuavis: acerbus
| (Schonest du nicht, wirst unduldsam du erscheinen) mit Strenge |
Odisti et fugis ut Drusonem debitor aeris, | Hassest du gleich und fliehst vor dem Freund, wie der Schuldner den Rufo. |
Qui nisi, cum tristes misero venere Kalendae, | Kann er, wenn qualvoll ihm erschienen die traurigen Kalenden, |
Mercedem aut nummos unde unde extricat, amaras | Nirgendwoher Kapital, noch Zinsen erpressen, so hörte er, |
Porrecto iugulo historias captivus ut audit. | Gleich dem Gefangnen den Hals darbietend, die lästigen Märchen. |
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- acerbus - kausal
- Octavius Ruso - ein berüchtigter Wucherer
- Kalendae - Zahlungstermin
- mercedem - die Zinsen; nummos - das Kapital
- porrecto iugulo - doppelsinnig: a) aufmerksam lauschend, b) bereit, den Todesstreich zu empfangen | historias audio - er muss sein Geschichtswerk mitanhören
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90 |
Conminxit lectum potus mensave catillum | Einer besudelt' im Trunke die Polster, er warf von der Tafel |
Euandri manibus tritum deiecit: ob hanc rem, | Ein von Euandrus' Hand gegrundetes Näpfchen: so etwas |
Aut positum ante mea quia pullum in parte catini | Oder ein Hühnchen, für mich in der Bratenschüssel bereitet, |
Sustulit esuriens, minus hoc iucundus amicus | Weil er es gierig verschlang, dies machte minder den Freund mir |
Sit mihi? quid faciam, si furtum fecerit aut si | Angenehm? Was nur beginn ich, wofern er des Diebstahls gezeiht wird, |
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- lectum - Speisesofa | catillum Euandri - angeblich ein Teller des alten Arkaderkönigs Euander
- positum ante - Tmesis
- hoc - deshalb
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95 |
Prodiderit conmissa fide sponsumve negarit? | Anvertrautes verrät, ableugnet gerichtliche Bürgschaft? |
Quis paria esse fere placuit peccata, laborant, | Welchen beliebt, dass so ziemlich die Laster sich gleich, sind verlegen, |
Cum ventum ad verum est: sensus moresque repugnant | So es zur Tat selbst kommt; es streitet Gefühl und Gewohnheit, |
Atque ipsa utilitas, iusti prope mater et aequi. | Ja auch das Nützliche selbst, das beinah nur Recht und Gesetz nährt. |
Cum prorepserunt primis animalia terris, | Als ans Licht vorkroch das Belebte aus frühestem Erdschoß, |
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- fide - Dat. | sponsum - Bürgschaft
- quis = quibus, Dativ. | Die Stoiker lehren omnia peccata paria
- sensus - das natürliche Gefühl, der gesunde Menschenverstand
- prorepserunt primis terris - aus dem jungfräulichen Schoß der Erde hervorkriechen
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100 |
Mutum et turpe pecus, glandem atque cubilia propter | Stummes vernunftsloses Vieh, war erst um Eichel und Lager |
Unguibus et pugnis, dein fustibus atque ita porro | Mit Fausthieben und Klau'n, dann Knütteln und weiter und weiter |
Pugnabant armis, quae post fabricaverat usus, | Ihnen mit Waffen der Kampf, die später die Sitte gebildet, |
Donec verba, quibus voces sensusque notarent, | Bis man das Wort, um Laut' und Empfindungen klar zu bezeichnen, |
Nominaque invenere; dehinc absistere bello, | Und die Benennungen fand; jetzt abzustehen vom Kriege, |
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- turpe - hässlich | glandes - die älteste Nahrung der Menschen | propter - nachgestellt
- pugnis v. pugnus | dein - einsilbig
- voces sensusque (Hendiadioyn) - den Ausdruck der Gefühle | verba = ῥήματα, zur Bezeichnung der Zustände; nomina = ὀνόματα, zur Bezeichnung der Gegenstände
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105 |
Oppida coeperunt munire et ponere leges, | Städte zu gründen begann man, Gesetz und Recht zu verordnen, |
Ne quis fur esset neu latro neu quis adulter. | Dass man dem Diebstahl wehrt' und dem Ehebruch und der Raublust. |
Nam fuit ante Helenam cunnus taeterrima belli | Denn vor Helena war die verruchteste Vettel des Krieges |
Causa, sed ignotis perierunt mortibus illi, | Anlass, doch ruhmlos vollendeten jene ihr Schicksal, |
Quos Venerem incertam rapientis more ferarum | Die, unsteten Genuss sich erraffend nach Sitte der Tiere, |
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- ponere leges - θέσθαι νόμους νομοθέτης
- ante Helenam - mit dem Trojanischen Krieg setzt die Geschichte ein
- Venerem incertam - wilde Triebe im Gegensatz zum matrimonium certum
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110 |
Viribus editior caedebat ut in grege taurus. | Ein Kraftvollrer erlegt, sowie in der Herde der Stier tut. |
Iura inventa metu iniusti fateare necesse est, | Recht sei erfunden aus Furcht vor dem Unrecht, musst du bekennen, |
Tempora si fastosque velis evolvere mundi. | Wenn du der Zeiten Verlauf und die Weltgeschichte dir aufrollst. |
Nec Natura potest iusto secernere iniquum, | Weder vermag die Natur vom Rechte zu scheiden das Unrecht, |
Ddividit ut bona diversis, fugienda petendis, | Wie sie vom Schlechteren trennt, was gut, vom Erwünschten zu Flieh'ndes; |
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- mundi - die von Menschen bewohnte Erde
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115 |
Nec vincet ratio hoc, tantundem ut peccet idemque, | Noch dies die Vernunft, dass gleich und dasselbe gefehlt sei, |
Qui teneros caules alieni fregerit horti | Wenn man des Kohls Erstlinge berupft im Garten des Nachbars, |
Et qui nocturnus sacra Divum legerit. Adsit | Oder die Tempel bei Nacht von den Göttern plündert. Es stehe |
Regula, peccatis quae poenas inroget aequas, | Fest ein Gesetz, so verhängt den Vergebung billige Strafe, |
Ne scutica dignum horribili sectere flagello. | Dass, der die Gerste verdient, nicht leide die schreckliche Knute. |
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120 |
Nam ut ferula caedas meritum maiora subire | Denn, dass mit Ruten du strafst, wenn einer die strengere Geißel |
Verbera, non vereor, cum dicas esse paris res | Sollte empfinden, befürcht' ich nicht, da du sagest, dass gleich sei |
Furta latrociniis et magnis parva mineris | Stehlen und Straßenraub, da du drohest das Kleine, wie Große |
Falce recisurum simili te, si tibi regnum | Ganz gleich niederzumähn mit der Sichel, sobald dir die Herrschaft |
Permittant homines. Si dives, qui sapiens est, | Würde verlieh'n von der Welt. Wenn an sich, wer weise, auch reich ist, |
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- ut - abhg. von non vereor (statt ne)
- magnis - Dat. abhg. von simili: parva simili te falce recisurum, qua magna | falce recisurum - Auswüchse beschneiden, wie der Winzer mit der Hippe die Reben beschneidet
- ein bekanntes Paradoxon der Stoiker: sapiens est dives, solus rex, solus formonsus
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125 |
Et sutor bonus et solus formosus et est rex, | Wenn er ein trefflicher Schuster, allein schön, wenn er ein Fürst ist: |
Cur optas quod habes? 'non nosti, quid pater' inquit | Warum begehr'n, was du hast?" – "Nicht weißt du, wie Vater Chrysippus |
'Chrysippus dicat: sapiens crepidas sibi numquam | Spricht", ruft jener mir zu. "Nie hat sich der Weise Sandalen, |
Nec soleas fecit; sutor tamen est sapiens.' Qui? | Nie Schuhsohlen gemacht; doch ist er ein Schuster!" – Und wie wohl? |
'Ut quamvis tacet Hermogenes, cantor tamen atque | "Wie wenn gleich Hermogenes schweigt, als Sänger sich doch und |
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- inquit - heißt es
- Chrysippus - der eigentliche Begründer der Stoa
- quamvis + Ind. | Tigellius Hermogenes - ein Freigelassener des zu Beginn erwähnten Tigellius
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130 |
Optumus est modulator; ut Alfenus vafer omni | Trefflichsten Musiker zeigt; wie der schlaue Alfenus, das ganze |
Abiecto instrumento artis clausaque taberna | Handwerkszeug beiseite gelegt und die Bude verschlossen, |
Sutor erat: sapiens operis sic optimus omnis
| Doch ein Barbier: so ist in sämtlichen Künsten der Weise |
Est opifex, solus sic rex.' Vellunt tibi barbam | Trefflichster Meister allein, so Regent!" – Da zupfen den Bart dir |
Lascivi pueri, quos tu nisi fuste coerces, | Lockere Buben, und wenn du sie nicht mit dem Knüttel zurückhältst, |
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- Alfenus - ein berühmter Jurist der damaligen Zeit, der zuvor Schustergewesen war
- barbam, fuste - Philosophenbart und Knüttel des Kynikers
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135 |
Urgeris turba circum te stante miserque | Wirst du bedrängt von dem Schwarm, der rings dich umsteht, und erbärmlich |
Rumperis et latras, magnorum maxime regum.
| Berstest du fast und bellst, großächtiger Könige größter! |
Ne longum faciam: dum tu quadrante lavatum | Doch dass kurz ich mich fass', indes du, König, ins Bad dich |
Rex ibis neque te quisquam stipator ineptum | Um drei Unzen begibst, und niemand du zum Gefolge |
Praeter Crispinum sectabitur, et mihi dulces | Außer Crispinus hast, den geschmacklosen; schenken mir gütig |
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- rumperis - bersten vor Ärger über den Hohn der Straßenjugend
- quadrans - 1/4 As. So viel kostete der Eintritt in die öffentlichen Bäder
- Crispinus - ein stoischer Tugendprediger | Dem et entspricht -que (141)
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140 |
Ignoscent, siquid peccaro stultus, amici | Nachsicht, wenn ich worin aus Torheit fehlte, die Freunde. |
Inque vicem illorum patiar delicta libenter | Wie auch von ihnen ich gern zum Vergelt will dulden die Fehler, |
Privatusque magis vivam te rege beatus. | Und als Privatmann mehr, denn du als König, beglückt sein! |
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Versmaß: Hexametrum dactylicum |
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Übersetzung: nach C.Passow
(in: Obbadius II 11-14); Kommentar: nach Schulze |
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Aufgabenvorschläge: |
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Sententiae excerptae:w411004 |
ab ovo - usque ad mala. |
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Vom Ei bis zu den Äpfeln (vom Anfang der Mahlzeit bis zu ihrem Ende) |
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Hor.sat.1,3,6f. | 2004 |
aequum est | Peccatis veniam poscentem reddere rursus. |
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Gerecht ist, | Wer für Versehn Nachsicht sich erholt, dass zurück er sie gebe. |
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Hor.sat.1,3,74f. | 46 |
barbam vellere (alicui) |
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(jdn.) am Bart ziehen (kränken) |
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*Hor.sat.1,3,133 | 2000 |
Cum tua pervideas oculis mala lippus inunctis, | Cur in amicorum vitiis tam cernis acutum? |
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Siehst du die Laster bei dir mit verschmierten und triefenden Augen, | Warum siehst du der Freunde Versehn dann mit schärferem Auge? |
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Hor.sat.1,3,25f. | 1999 |
egomet mi ignosco |
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Mir schenke ich Verzeihung |
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Hor.sat.1,3,23. | 2005 |
Iura inventa metu iniusti fateare necesse est, |
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Recht sei erfunden aus Furcht vor dem Unrecht, muss man bekennen. |
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Hor.sat.1,3,111 | 2002 |
Nam vitiis nemo sine nascitur; optimus ille est, | Qui minimis urgetur. |
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Ist ja von Fehlern befreit kein Sterblicher; der ist der Beste, | Den die geringsten entstellen. |
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Hor.sat.1,3,68f. | 2001 |
Neglectis urenda filix innascitur agris |
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Auf dem Acker, den nicht man bestellt wächst Farnkraut für's Feuer |
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Hor.sat.1,3,37. | 2003 |
Qui, ne tuberibus propriis offendat amicum, | Postulat, ignoscet verrucis illius! |
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Wenn, dass den Freund er nicht durch die eignen Geschwülste verletze, | Jemand verlangt, so verzeiht er die Warze des Freundes! |
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Hor.sat.1,3,73f. | 2006 |
Vellunt tibi barbam | Lascivi pueri |
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Da zupfen den Bart dir | Lockere Buben |
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Hor.sat.1,3,133f. |
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