"Der "Ohrbiss" oder: Vom Wert des Lateinischen

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Das Antike und Antiquarische hat für sich kein Gewicht." Hat Heidegger (Holzwege, Frankfurt/M 1972, S.300) damit recht, kommt alles auf die Rezeption an, auf Aneignung, die Stelle also, wo der Funke überspringt, wo das "für sich" zum "für mich" wird. Ein Beispiel möge verdeutlichen, was gemeint ist:

Der "Boxkampf des Jahrhunderts" fand am 28. Juni 1997 statt. Die Welt schaute gespannt nach Las Vegas. Sollte es Holyfield wirklich zum zweiten Mal gelingen, Mike Tyson zu schlagen, dieses Mal entscheidend?

Da passiert der Skandal: Als Mike seine Chancen schwinden sieht, beißt er ihm ins Ohr: einmal, zweimal, fest, kannibalisch brutal. Holyfield hüpft vor Schmerz im Ring umher. Tyson verliert den Kampf durch Disqualifizierung, grinst aber höllisch zufrieden: wenigstens seine Ehre hat er gerettet. Hat er?

Die auf Lebenszeit drohende Sperre machte ihm schnell klar, dass mehr auf dem Spiel stand. Also folgte am nächsten Tag vor surrender Kamera die halbherzige Entschuldigung. Er, Mike Tyson, sei wie von Sinnen gewesen; er wolle sich von einem Psychiater erklären lassen, was da in ihm vorgegangen sei. Genau da setzt unsere Rezeption an, denn amerikanische Psychiater sind teuer, Rezeption aber ist spottbillig:

Der Kampf des Jahrhunderts tobte im Jahre 216 v. Chr., am 2. August. Die Welt schaute gebannt nach Cannae. Sollte es Hannibal zum x-ten Mal gelingen, die Römer zu schlagen, diesmal entscheidend?

Als die punischen Sieger am nächsten Tag freudetrunken das Schlachtfeld aufsuchen, schlägt besonders eine Szene alle in ihren Bann: "Aller Aufmerksamkeit zog besonders ein Numider auf sich, den man noch lebend mit zerbissener Nase und zerbissenen Ohren (auribus laceratis) unter einem toten Römer, der über ihm lag, hervorzog. Weil die Hände des Römers keine Waffen mehr hatten halten können (manibus... inutilibus), steigerte sich sein Zorn zu solcher Wut (ira in rabiem versa), dass er seinen Feind mit seinen Zähnen zerfetzte (laniando dentibus)." (Liv. XXII 51, 9)

Ob Tyson wirklich einen Psychiater aufsuchte und wie dessen Analyse ausfiel, wurde in unseren Breiten nie bekannt: kein schmerzlicher Mangel an Information, denn wir wussten längst:

"Tyson manibus ad pugnandum inutilibus in rabiem ira versa laniando dentibus hostis aures laceravit."

Versagen die Fäuste, beißt der zorneswütige Kämpfer zu: einmal, zweimal, fest, hannibalisch brutal. Hüpft der Sieger vor Schmerzen, hat der Unterlegene wenigstens seine Ehre gerettet. Hat er?

Wie beruhigend, dass die "für sich" gewichtlose römische Antike "für den oder jenen" hin und wieder wenigstens ein Honorar ersparen kann!

Diesen existentiellen Vorteil des Antiken hätte Heidegger bedenken sollen, statt sich "ohne Gewicht" am "Sinn des Seins" abzuarbeiten.

 

Für alle, die sich - wie Jürgen Wortmann - nicht scheuen, "fast 30 Jahre nach ihrem Großen Latinum erstmalig wieder ein paar Worte Latein" zu lesen.

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