J.P.Sartre: Ist der Existentialismus
ein Humanismus?
(1946, Frankfurt a.M. 1968)
(7) Ich möchte hier
den Existentialismus gegen eine gewisse Anzahl von Vorwürfen, die
gegen ihn erhoben worden sind, verteidigen
Gegen den Existentialismus
erhobene Kritiken
Zunächst hat man ihm vorgeworfen,
die Menschen einzuladen, in einem Quietismus der Verzweiflung zu verharren
(weil, da alle Lösungen verbaut sind, man beachten müsse, dass
Handeln in dieser Welt gänzlich unmöglich ist), und bei einer
beschaulichen Weltanschauung zu landen - was übrigens, da Beschauung
eine Luxushaltung ist, uns zu einer bourgeoisen Philosophie zurückführe.
Dies sind vornehmlich die Vorwürfe der Kommunisten.
Von der anderen Seite hat man
uns vorgeworfen, das menschlich Schmähliche zu unterstreichen; überall
das Schmutzige, das Verdächtige und Klebrige zu zeigen und eine gewisse
Anzahl von lachenden Schönheiten, die Lichtseite der menschlichen
Natur zu vernachlässigen - so zum Beispiel laut Fräulein Mercier,
einer katholischen Kritikerin, das Lächeln des Kindes zu vergessen.
Die einen wie die andern werfen
uns vor, uns an der menschlichen Solidarität verfehlt zu haben, die
Vereinzelung des Menschen in den Blick zu stellen - zum großen Teil
übrigens, weil wir , wie die Kommunisten sagen, von der reinen Subjektivität
ausgehen, das heißt von dem cartesianischen Ich denke"
- und das bedeutet nochmals: von dem Moment, wo der Mensch in seiner
Einsamkeit zu sich kommt - was uns in der Folge unfähig mache,
in die Gemeinbürgerschaft mit den Menschen, die außerhalb des
Ich sind und die ich in dem Cogito" nicht erreichen kann, zurückzukehren.
(8) Die Kriterien der Katholiken
Und von christliche Seite wirft
man uns vor, Wirklichkeit und Ernst der menschlichen Unternehmungen zu
verneinen. Denn wenn wir die göttlichen Gebote und die in der Ewigkeit
verzeichneten Werte unterdrücken, so bleibe uns nichts als das streng
Freibleibende, da jeder tun könne, was er wolle, und unfähig
sei, von seinem Standpunkt aus die Standpunkte und die Handlungen der
anderen zu verurteilen.
Auf diese verschiedenen Vorwürfe
versuche ich heute zu antworten; deshalb habe ich dieser Darlegung den
Titel gegeben: Ist der Existentialismus ein Humanismus?"
Viele werden sich wundern, dass man hier von Humanismus spricht. Wir werden
versuchen zu zeigen, in welchem Sinne wir das meinen. Auf jeden Fall können
wir von Anfang an sagen, dass wir unter Existentialismus eine Lehre verstehen,
die das menschliche Leben möglich macht und die anderweit erklärt,
dass jede Wahrheit und jede Handlung eine Umwelt und eine menschliche
Ichheit einschließt. Der Hauptvorwurf, der gegen uns erhoben wird,
ist, wie man weiß, derjenige, der schlechten Seite des menschlichen
Lebens den Nachdruck zu verleihen. Kürzlich erzählte man mir
von einer Dame, die, als sie aus Nervosität ein vulgäres Wort
fallen ließ, sich entschuldigte: Ich glaube, ich werde Existentialistin.
[...]
(9...) Was in der Lehre, die
ich Ihnen auseinandersetzen will, beängstigend wirkt, ist es im Grunde
etwa die Tatsache, dass sie dem Menschen eine Möglichkeit der Wahl
läßt? Um das zu wissen, müssen wir die Frage auf einer
streng philosophischen Ebene noch einmal prüfen. Was nennt man Existentialismus?
[...]
Und dennoch läßt
sie (die Lehre) sich leicht definieren. Verwickelt werden die Dinge dadurch,
dass es zwei Arten von Existentialisten gibt: die ersten, welche Christen
sind, unter die ich Jaspers und Gabriel Marcel (dieser katholischer Konfession)
einreihen würde; und auf der anderen Seite die atheistischen Existentialisten,
zu denen ich Heidegger und auch die französischen Existentialisten
und ich selber zu stellen sind. Gemeinsam haben sie die Überzeugung,
dass die Existenz der Essenz vorangehe, oder, wenn Sie wollen, dass man
von der Ichheit ausgehen muss. Was soll man genauer darunter verstehen?
Betrachten wir ein Artefakt, zum (10) Beispiel ein Buch oder ein Papiermesser,
so ist dieser Gegenstand von einem Handwerker angefertigt worden, der
sich von einem Begriff hat anregen lassen, er hat sich auf den Begriff
Papiermesser bezogen und zugleich auf eine vorher bestehende Technik der
Erzeugung, welche zu dem Begriff gehört und im Grunde ein Rezept
ist. Somit ist das Papiermesser zugleich ein Gegenstand, der auf eine
bestimmte Art hergestellt wird und andererseits eine bestimmte Verwendung
hat; und man kann sich nicht einen Menschen vorstellen, der ein Papiermesser
anfertigte, ohne zu wissen, wozu der Gegenstand dienen soll. Wir werden
also sagen, dass in Bezug auf das Papiermesser die Essenz - das heißt
die Summe der Rezepte und der Eigenschaften, die erlauben, es anzufertigen
und es zu bestimmen - der Existenz vorangeht, und so ist die Anwesenheit
mir gegenüber solch eines Papiermessers oder solch eines Buches determiniert.
Wir haben also hier ein technisches Bild der Welt, in der, kann man sagen,
die Erzeugung der Existenz vorausgeht.
Wenn wir einen Schöpfer-Gott
annehmen, so wird dieser Gott meistens einem höherstehenden Handwerker
angeglichen; und was für eine theologische Lehre wir auch betrachten,
ob es sich um eine Lehre wie die von Descartes oder von Leibniz handelt,
wir räumen immer ein, dass der Wille mehr oder weniger dem Verstand
folgt oder ihn wenigstens begleitet, und dass Gott, wenn er schafft, genau
weiß, was er schafft.
Der Mensch und Gott in der
Philosophie des 17. Jahrhunderts
Demnach ist der Begriff Mensch
im Geiste Gottes dem Begriff Papiermesser im Geiste des Handwerkers anzugleichen,
und Gott erzeugt den Menschen nach Techniken und einem Begriff, genau
wie der Handwerker ein Papiermesser nach einer Definition und einer Technik
anfertigt. So verwirklicht der individuelle Mensch einen bestimmten Begriff,
der im göttlichen Verstande ist. Im 18. Jahrhundert wird in den atheistischen
Lehren Gott abgeschafft, aber nicht ebenso die Idee, dass die Essenz der
Existenz vorangehe.
Die menschliche Natur bei
den Philosophen des 18. Jahrhunderts
Diese Idee finden wir sozusagen
überall wieder: wir finden sie bei Diderot, bei Voltaire und selbst
bei Kant wieder. Der Mensch ist Eigentümer einer menschlichen Natur,
welche der Begriff des Menschen ist, findet sich bei allen Menschen wieder.
Dies bedeutet, dass jeder Mensch ein besonderes Beispiel eines allgemeinen
Begriffes Der Mensch" ist. Bei Kant geht aus dieser Allgemeinheit
hervor, dass sowohl der Urwaldmensch, der Naturmensch, wie der Bür-
(11) ger derselben Begriffsbestimmung unterworfen ist und dieselben Grundeigenschaften
besitzt. Somit geht auch hier noch die Essenz des Menschen jener geschichtlichen
Existenz voraus, der wir in der Natur begegnen.
Der atheistische Existentialismus
Der atheistische Existentialismus,
für den ich stehe, ist zusammenhängender. Er erklärt, dass,
wenn Gott nicht existiert, es mindestens ein Wesen gibt, bei dem
die Existenz der Essenz vorausgeht, ein Wesen das existiert, bevor es
durch irgendeinen Begriff definiert werden kann, und dass dieses Wesen
der Mensch oder wie Heidegger sagt, die menschliche Wirklichkeit ist,
Was bedeutet hier, dass die Existenz der Essenz vorausgeht? Es bedeutet,
dass der Mensch zuerst existiert, sich begegnet, in der Welt auftaucht
und sich danach definiert.
Die existentialistische Auffassung
vom Menschen
Wenn der Mensch, so wie ihn
der Existentialist begreift, nicht definierbar ist, so darum, weil er
anfangs überhaupt nichts ist. Er wird erst in der weiteren Folge
sein, und er wird so sein, wie er sich geschaffen haben wird. Also gibt
es keine menschliche Natur, da es keinen Gott gibt, um sie zu entwerfen.
Der Mensch ist lediglich so, wie er sich konzipiert - ja nicht allein
so, sondern wie er sich will und wie er sich nach der Existenz konzipiert,
wie er sich will nach diesem Sichschwingen auf die Existenz hin; der Mensch
ist nichts anderes, als wozu er sich macht.
Der Mensch ist, wozu er sich
macht
Das ist der erste Grundsatz
des Existentialismus. Das ist es auch, was man die Subjektivität
nennt und was man uns unter eben diesem Namen zum Vorwurf macht. Aber
was wollen wir denn damit anderes sagen, als dass der Mensch eine größere
Würde hat als der Stein oder der Tisch? Denn wir wollen sagen, dass
der Mensch zuerst existiert, das heißt, dass er zuerst ist, was
sich in seine Zukunft hinwirft und was sich bewußt ist, sich in
der Zukunft zu planen. [...]
(12...) Der Mensch ist voll
und ganz verantwortlich
Aber wenn wirklich die Existenz
der Essenz vorausgeht, so ist der Mensch verantwortlich für das,
was er ist. Somit ist der erste Schritt des Existentialismus, jeden Menschen
in den Besitz dessen, was er ist, zu bringen und auf ihm die gänzliche
Verantwortung für seine Existenz ruhen zu lassen. Und wenn wir sagen,
dass der Mensch für sich selbst verantwortlich ist, so wollen wir
nicht sagen, dass der Mensch gerade eben nur für seine Individualität
verantwortlich ist, sondern dass er verantwortlich ist für alle Menschen.
[...] Indem wir sagen, dass der Mensch sich wählt, verstehen wir
darunter, dass jeder unter uns sich wählt, aber damit wollen wir
ebenfalls sagen, dass, indem er sich wählt, er alle Menschen wählt.
Tatsächlich gibt es nicht eine unserer Handlungen, die, indem sie
den Menschen schafft, der wir sein wollen, nicht gleichzeitig ein Bild
des Menschen schafft, so wir meinen, dass er sein soll. [...]
(13...) Der individuelle Akt
bindet die ganze Menschheit
Und will ich eine individuelle
Tatsache - mich verheiraten und Kinder haben, selbst wenn diese Heirat
einzig und allein von meiner Lage oder von meiner Leidenschaft oder von
meinen Begehren abhängt, so binde ich dadurch nicht nur mich selber,
sondern verpflichte die ganze Menschheit auf den Weg der Monogamie. So
bin ich für mich selbst und für alle verantwortlich, und ich
schaffe ein bestimmte Bild des Menschen, den ich wähle; indem ich
mich wähle, wähle ich den Menschen. [...]
(16...) Dostojewskij und der
Existentialismus
Dostojewskij hatte geschrieben:
Wenn Gott nicht existiert, so wäre alles erlaubt". Das
ist der Ausgangspunkt des Existentialismus. In der Tat, alles ist erlaubt,
wenn Gott nicht existiert, und demzufolge ist der Mensch verlassen, da
er weder in sich noch außerhalb seiner eine Möglichkeit findet,
sich anzuklammern. Vor allem findet er keine Entschuldigungen. Geht tatsächlich
die Existenz der Essenz voraus, so kann man nie durch Bezugnahme auf eine
gegebene und feststehende menschliche Natur Erklärungen geben, anders
gesagt, es gibt keine Vorausbestimmung mehr, der Mensch ist frei, der
Mensch ist Freiheit.
Wenn wiederum Gott nicht existiert,
so finden wir uns keinen Werten, keinen Geboten gegenüber , die unser
Betragen rechtfertigen. So haben wir weder hinter uns noch vor uns, im
Lichtreich der Werte, Rechtfertigungen oder Entschuldigungen. Das ist
es, was ich durch das Wort ausdrücken will: Der Mensch ist verurteilt,
frei zu sein. Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, andererseits
aber dennoch frei, da er, einmal in die Welt geworfen, für alles
verantwortlich, was er tut. [...]
(22...) Geschichte und menschliche
Wahl
Bedeutet dies, dass ich mich
dem Quietismus hingeben soll? Nein. [...] Der Quietismus ist die Haltung
der Leute, die sagen: Die anderen können tun, was ich nicht tun kann.
Die Lehre, die ich Ihnen vortrage, ist dem Quietismus gerade entgegengesetzt,
da sie erklärt:
Der Existentialismus stellt
sich dem Quietismus entgegen
Es gibt Wirklichkeit nur in
der Tat; übrigens geht sie noch weiter, indem sie beifügt: Der
Mensch ist nichts anderes als sein Entwurf, er existiert nur in dem Maße,
in dem er sich verwirklicht, er ist also nichts anderes als die Gesamtheit
seiner Handlungen, nichts anderes als sein Leben. [...]
(23...) Der Mensch ist, was
er vollbringt
Das Genie Prousts ist die Gesamtheit
der Werke Prousts; Racines Genie ist die Reihe seiner Trauerspiele, außerhalb
davon ist nichts vorhanden. [...] Ein Mensch bindet sich in seinem Leben,
zeichnet sein Gesicht, und außerhalb dieses Gesichtes ist nichts
vorhanden. Selbstverständlich kann dieser Gedanke jemandem hart erscheinen,
dem sein Leben nicht geglückt ist.
Der Mensch ist nichts anderes
als sein Leben
[...] wenn man sagt: Du
bist nichts anderes als dein Leben", so schließt das nicht
ein, der Künstler werde nur nach seinen Kunstwerken beurteilt werden,
tausend anderer Dinge tragen zu seiner Definition bei. Was wir sagen wollen,
ist, dass ein Mensch nichts anderes als eine Reihe von Unternehmungen
ist, dass er die Summe, die Durchgliederung, die Gesamtheit der Beziehungen
ist, welche diese Unternehmungen ausmachen. [...]
(Man wirft uns) vor, den Menschen
in seiner individuellen Ichheit einzumauern. Auch da wieder versteht man
uns vollkommen falsch.
Unser Ausgangspunkt ist tatsächlich
die Subjektivität des Individuums, und dies aus streng philosophischen
Gründen. [...] Es kann dabei keine andere Wahrheit geben, von der
man ausgehen kann, als diese: Ich denke also bin ich. Es ist die absolute
Wahrheit des Bewußtseins, das zu sich selbst kommt.
Jede Theorie, die den Menschen
außerhalb dieses Momentes begreift, wo er zu sich selbst kommt,
ist erstens eine Theorie, die die Wahrheit unterdrückt, denn außerhalb
des cartesianischen Cogito sind alle Objekte nur wahrscheinlich, und eine
Lehre der Wahrscheinlichkeiten, die nicht an einer Wahrheit hängt,
fällt ins Nichts zusammen; um Wahrscheinliches zu bestimmen, muss
man das Wahre besitzen. Damit also eine ungefähre Wahrheit
sein kann, braucht es eine absolute Wahrheit, und diese ist einfach,
leicht zu gewinnen, sie ist im Bereich eines jeden; sie besteht darin,
sich selbst ohne Vermittlung zu erfassen.
Zum zweiten ist diese Theorie
die einzige, die dem Menschen eine Würde verleiht, die einzige, die
ihn nicht zum Gegenstand macht. Jeder Materialismus hat zur Wirkung, alle
Menschen, sich selber inbegriffen, (26) als Gegenstand zu behandeln, das
heißt als ein Ganzes von vorausbestimmten Reaktionen, das sich durch
nichts unterscheidet von der Summe der Eigenschaften und der Erscheinungen,
welche einen Tisch, einen Stuhl oder einen Stein ausmachen. Wir aber wollen
gerade das Menschenreich als eine Gesamtheit von Werten aufbauen, die
vom Reiche des Stofflichen unterschieden sind. Aber die Ichheit, die wir
da als Wahrheit erreichen, ist nicht eine streng individuelle Ichheit,
denn wir haben bewiesen, dass man im Cogito nicht nur sich selbst entdeckt,
sondern auch die anderen.
Durch das Ich denke"
kommen wir - im Gegensatz zu der Philosophie von Descartes, im Gegensatz
zu der Philosophie Kants - zu uns selber im Angesicht des andern, und
der andere ist für uns ebenso sicher wie wir selbst. Somit entdeckt
der Mensch, der sich durch das Cogito unmittelbar erfasst, auch alle andern,
und er entdeckt sie als die Bedingung seiner Existenz.
Existenz des andern
Er gibt sich Rechenschaft,
dass er nichts sein kann (im Sinne wie man sagt, einer ist geistreich,
einer ist bösartig, einer ist eifersüchtig) außer wenn
die anderen ihn als solchen anerkennen.
Um irgendwelche Wahrheit über
mich zu erfahren, muss ich durch den andern hindurchgehen. Der andere
ist meiner Existenz unentbehrlich, ebenso wie er der Erkenntnis, die ich
von mir selber habe, unentbehrlich ist. Unter diesen Bedingungen enthüllt
die Entdeckung meines Innersten mir gleichzeitig den andern, als eine
mir gegenüberstehende Freiheit, die nur für oder gegen mich
denkt und will. Somit entdecken wir sofort eine Welt, die wir Zwischen-Ichheit"
(Intersubjektivität) nennen wollen, und in dieser Welt entscheidet
der Mensch, was er ist und was die andern sind. [...]
(32...) Die Freiheit des andern
Wir wollen die Freiheit um
der Freiheit willen und durch jeden besonderen Einzelumstand hindurch.
Und indem wir die Freiheit wollen, entdecken wir, dass sie ganz und gar
von der Freiheit der andern abhängt, und dass die Freiheit der andern
von der unsern abhängt. Gewiß hängt die Freiheit als Definition
des Menschen nicht vom andern ab, aber sobald ein Sichbinden vorhanden
ist, bin ich verpflichtet, gleichzeitig mit meiner Freiheit die der andern
zu wollen, und ich kann meine Freiheit nicht zum Ziel nehmen, wenn ich
nicht zugleich die Freiheit des andern zum Ziel nehme. [...]
(43...) Die existentialistischen
Werte
[...] da ich Gottvater ausgeschaltet
habe, muss es wohl jemanden geben, der die Werte erfindet. Man muss die
Dinge nehmen, wie sie sind. Und übrigens zu sagen, dass wir die Werte
erfinden, bedeutet nichts anderes als dies: das Leben hat a priori keinen
Sinn. Ehe Sie leben, ist das Leben nichts; es liegt bei Ihnen, ihm einen
Sinn zu verleihen, und der Wert ist nichts anderes als der Sinn, den Sie
wählen. [...]
(Der Humanismus, der den Menschen
nach dem Motto Der Mensch ist fabelhaft" zum Endzweck und als
höheren Wert nimmt,) ist unsinnig, denn nur der Hund oder das Pferd
könnte ein Allgemeinurteil über den Menschen fällen und
erklären, dass der Mensch fabelhaft ist, was sie sich, wenigstens
meiner Kenntnis nach, wohl hüten zu tun. Aber man kann nicht zugeben,
dass der Mensch ein Urteil über den Menschen fällen könne.
Der Exi- (35) stentialist erläßt ihm jegliches Urteil solcher
Art; der Existentialist wird den Menschen nie als einen Zweck nehmen,
denn der Mensch ist immer neu zu schaffen. Und wir dürfen nicht glauben,
dass es ein Menschentum gibt, dem wir in der Art des Auguste Comtes einen
Kultus widmen könnten. Der Menschheitskultus endet bei dem in sich
geschlossenen Humanismus Comtes und, das muss gesagt sein, beim Faschismus.
Das ist ein Humanismus, von dem wir nichts wissen wollen.
Aber es gibt einen anderen
Begriff des Humanismus", welcher im Grunde genommen dies bedeutet:
Der Mensch ist dauern außerhalb seiner selbst; indem er sich entwirft
und indem er sich außerhalb seiner verliert, macht er, dass der
Mensch existiert, und auf der anderen Seite, indem er transzendente Ziele
verfolgt, kann er existieren: der Mensch ist diese Überschreitung
und erfasst die Gegenstände nur in Beziehung auf diese Überschreitung,
und so befindet er sich im Herzen, im Mittelpunkt dieser Überschreitung.
Es gibt kein anderes All als ein menschliches All, als das All der menschlichen
Ichheit.
Diese Verbindung der Transzendenz
als den Menschen konstituierend (nicht im Sinne, wie Gott transzendent
ist, sondern im Sinne der Überschreitung) und der Ichheit, in dem
Sinne, wie der Mensch nicht in sich selber eingeschlossen ist, sondern
dauernd gegenwärtig in einem menschlichen All - das ist es, was wir
den existentialistischen Humanismus nennen. Humanismus, weil wir den Menschen
daran erinnern, dass es außer ihm keinen anderen Gesetzgeber gibt
und dass er in seiner Verlassenheit über sich selber entscheidet;
und weil wir zeigen, dass nicht durch Rückwendung auf sich selber,
sondern immer durch Suche nach einem Ziel außerhalb seiner, welches
diese oder jene Befreiung, diese oder jene besondere Verwirklichung ist
- dass dadurch der Mensch sich als humanes Wesen verwirklichen wird. Aus
diesen Überlegungen kann man ersehen, dass nichts ungerechter ist,
als die Vorwürfe, die man gegen uns erhebt.
Existentialismus und Atheismus
Der Existentialismus ist nichts
anderes als eine Bemühung, alle Folgerungen aus einer zusammenhängenden
atheistischen Einstellung zu ziehen. Er versucht keineswegs, den Menschen
in Verzweiflung zu stürzen. Aber wenn man, wie die Christen, jede
Haltung des Unglaubens (36) Verzweiflung nennt, so geht der Existentialismus
von der Urverzweiflung aus. [...]
Schlußfolgerungen
In diesem Sinne ist der Existentialismus
ein Optimismus, eine Lehre der Tat, und nur aus Böswilligkeit können
die Christen, ihre eigene Verzweiflung mit der unseren verwechselnd, uns
zu Verzweifelten stempeln.
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