Religionskritik: Ludwig Feuerbach
Ludwig Feuerbach
Literatur:
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H. Fries |
Ludwig Feuerbach, in: K-H.
Weger: Religionskritik von der Aufklärung bis zur
Gegenwart, Freiburg 1979, S. 78-93 |
W. Bender / J. Deninger |
Religionskritik I, München
(BSV) 1977, S. 15-19 |
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Einleitung:
Ludwig Feuerbach (1804-1872) studierte
zunächst in Heidelberg evangelische Theologie,
wurde dann in Berlin Schüler G.W.F. Hegels und
habilitierte sich 1828 in Erlangen. Wegen Schwierigkeiten
mit den Behörden gab er das Lehramt auf und lebte
als freier Schriftsteller. Feuerbach gehörte zu
den führenden Köpfen der sogenannten Hegelschen
Linken, die Hegels Philosophie des Geistes als Idealismus
ablehnte und sich einem rigorosen Materialismus zuwandte.
Erkenntnistheoretisch kann es für Feuerbach nichts
Geistiges geben. Anknüpfend an den englischen Empirismus
existieren für ihn nur Vorstellungen im eigenen
Denken. Hegels Dialektik erscheint ihm als ein Dualismus,
der überwunden werden muss. Darum kann "Gott"
nichts anderes sein als eine Vorstellung des menschlichen
Denkens. Das eigentliche "Selbst", die wahre
"Person" - das alles ist der Mensch, der sich
eine Vorstellung von Gott entwickelte, indem er seine
Vernunft mit der Möglichkeit allgemeiner Erkenntnis
von der konkreten Erfahrung des einzelnen abgespalten
und verselbständigt hat. Das Abstraktionsvermögen
ist als Transzendenz verkannt worden. Sehnsucht nach
Vollendung und Selbstsucht zugleich haben Gott zum vollkommenen
Wesen und zum Souverän übersittlicher Normen
ge-macht. ("Theogonie" = Ursprung der Religion
aus dem Egoismus). [W.Bender / J.Deninger 15] |
K. Marx über
Feuerbachs Bedeutung:
-
"Feuerbach ist unser größter
Prophet, es gibt keinen anderen Weg zur Wahrheit
als durch den Feuerbach. Er ist das Purgatorium
der Gegenwart." -
-
"Die Kritik der Religion
ist in Deutschland durch Feuerbach im wesentlichen
beendet." (1844)
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- Von
der Religion zur Religionskritik
- Unter dem Eindruck Hegels 1824 Wechsel von der Theologie
zur Philosophie
- Theologie "ist für mich eine verwelkte
schöne Blume, eine abgestreifte Puppenhülle,
eine überstiegene Bildungsstufe, eine verschwundene
formgebende Bestimmung meines Denkens, deren Andenken
jedoch noch segensreich fortwirken wird in der Nachwelt
meiner neu begonnenen Lebensweise... Palästina
ist mir zu eng; ich muss in die weite Welt, und
diese trägt bloß der Philosoph auf seinen
Schultern."
- Etwa 1839 Abkehr von der Philosophie Hegels, die ihm
zu spekulativ als "trunkene Philosophie"
erscheint. Ausdruck der Umkehrung des spekulativen Denkens.
Wenn Hegel behauptet "das Bewußtsein des
Menschen von Gott ist das Selbstbewußtsein Gottes",
so Feuerbach:
- "Das absolute Wesen, der Gott der Menschen
ist sein eigenes Wesen. Wie der Mensch denkt, wie
er gesinnt ist, so ist Gott. Das Bewußtsein
Gottes ist das Selbstbewußtsein des Menschen,
die Erkenntnis Gottes ist die Selbsterkenntnis des
Menschen. Aus seinem Gott erkennst du den Menschen
und wiederum aus dem Menschen seinen Gott."
- Ergebnis: Philosophie erfolgt vom Menschen aus (der
Mensch rückt an die Stelle des Absoluten bei Hegel).
Dabei ist die Anthropologie Feurbachs durch ein ganzheitliches
Menschenbild (Totalität) bestimmt. Die Liebe
hat den Primat vor dem Denken. Totalität
zeigt sich als Einheit von:
-
Denken |
und |
Sinnlichkeit |
Kopf |
und |
Herz |
Ich |
und |
Du |
Menschlichkeit |
und |
Mitmenschlichkeit |
Individualität |
und |
Gattung |
Einzelgeschichte |
und |
Universalgeschichte |
- Die
genetisch-kritische Erklärung des Entstehens von
Religion
- Urgrund für die Entstehung der Religion:
- Bewußtsein (Denken) des Menschen, das sich
(im Gegensatz zum Tier) durch Reflexivität
auszeichnet. Das Menschliche Bewußtsein ist
unendlich und bezieht sich auf das Unendliche. Religion
hat ihren Ursprung im Wesen des Menschen, das durch
die Unendlichkeit des Bewußtseins bestimmt
ist.
-
Wahrheit
der Religion |
Unwahrheit
der Religion |
Religion ist das
Verhalten des Menschen zu seinem eigenen unendlichen
Wesen |
Entzweiung des
Menschen mit sich selbst: Der Mensch verselbständigt
das unendliche Wesen seiner selbst zu einem
von den Menschen verschiedenen Wesen
- Der Mensch schuf Gott nach seinem
Bilde
- Gott ist das entäußerte
Selbst des Menschen.
|
- Die wahre Unendlichkeit des Menschen besteht in der
das Individuum überschreitenden Menschheit, in
der Gattung Mensch. Dazu gehört auch seine Universalgeschichte.
Hier liegt die wahre Transzendenz des Menschen.
Folgerungen:
- Die Unterschiede in der Gottesauffassung (Projektionen)
sind anthropologisch begründet
- Religion gehört dem kindlichen Stadium der
Menschheit an (geht der Philosophie voraus)
"Der geschichtliche Fortgang der Religion
besteht deshalb darin, dass das, was... als Gott
angeschaut und angebetet wurde, jetzt als etwas
Menschliches erkannt wird... Jeder Fortschritt
in der Religion ist daher eine tiefere Selbsterkenntnis."
- Keineswegs ist die Verneinung des Subjektes Gott
die Verneinung der von ihm ausgesagten Eigenschaften
(Liebe, Gerechtigkeit, Weisheit). Nur der ist also
Atheist, der die Prädikate des göttlichen
Wesens leugnet.
"Güte und Gerechtigkeit sind keine
Chimären, wenn die Existenz Gottes eine Chimäre
ist."
- Das unendliche Wesen des Menschen ist bestimmt durch
die Unendlichkeit, die der Vernunft, dem Willen und
der Liebe des Menschen eigen ist.
- Die konkreten
Inhalte der Religion als Projektionen des Menschen
- allgemein:
- Gott als absoluter Geist: idealisierte Projektion
(Hypostasierung) des Verstandes des Menschen
- Gott als absolut Gutes: idealisierte Projektion
(Hypostasierung) menschlicher Moralität
- Gott ist die Liebe: idealisierte Projektion (Hypostasierung)
menschlicher Liebe
- speziell christlich:
- Inkarnation: Sie ist nichts anderes als die Erscheinung
eines menschlich fühlenden, darum wesentlich
menschlichen Wesens.
- Trinität: Sie ist nichts anderes als das
Bewußtsein des Menschen von sich selbst in
seiner Totalität: Bewußtsein als
-
Verstand |
Ich |
Geist |
Wille |
Du |
Vater |
Liebe |
Wir |
Sohn |
- Geheimnis des leidenden Gottes (Christus als "passio
pura"): Es heißt nichts anderes als dass
Leiden für andere göttlich ist.
- "Wer für andere leidet, handelt
göttlich, ist des Menschen Gott."
- Zusammenfassung:
- Das im Gebet apostrophierte "Du" Gottes
ist das "andere Ich" des Menschen, der
verwirklichte Wunsch des menschlichen Herzens und
Gemütes.
Gott ist für den Menschen das "Collectaneenbuch
seiner höchsten Empfindungen und Gedanken,
das Stammbuch, worin er die Namen der ihm teuersten,
heiligsten Wesen einträgt."
- Das Wesen des christlichen Glaubens besteht darin,
dass ist, was der Mensch sich wünscht. Die
Grunddogmen des Christentums sind erfüllte
Herzenswünsche:
- Unsterblichkeit
- Glück
- Seligkeit
-
Gott |
das Wesen
des Menschen, gereinigt von allen
Schranken und Übeln |
Jenseits |
das von
allen Schranken und Übeln gereinigte
Diesseits |
Christus |
Erfüllung
des größten Menschenwunsches:
Gott zu sehen |
Christi
Leiden |
der höchste
Trost des Gemütes |
Christ
Auferstehung |
das befriedigte
Verlangen des Menschen nach Unsterblichkeit |
- Negative
Auswirkungen der Religion
Grundthese Feuerbachs: Der Mensch ist Anfang, Mittelpunkt
und Ende der Religion. Dieser verbale Atheismus ist wahrer
Humanismus (radikale Bejahung und Befreiung der Menschen)
Die Annahme eines Subjektes Gott ist überflüssig;
denn sie erklärt nichts. Sie ist sogar abträglich:
- sie proklamiert die Nichtigkeit der Welt und des Menschen
und führt so zu Gleichgültigkeit und Passivität
[Weltverneinung]
- Behinderung von Wissenschaft, Fortschritt, Aufklärung,
Mündigkeit und Freiheit [Fortschrittsverneinung]
- Verachtung von Leiblichkeit und Geschlechtlichkeit
[Leibverachtung]
- Intoleranz gegen Nichtgläubige [Intoleranz]
- Beeinträchtigung der Liebe durch den Glauben
- "Der Glaube trennt und beschränkt,
die Liebe eint und öffnet. Der Glaube opfert
die Liebe der Ehre Gottes."
- Schwächung der Moral durch Verlagerung der Verantwortung
weg vom Menschen: Nicht die Theologie begründet
die Moral, sondern die Moral bestimmt das Wesen Gottes.
- "Die Moral: Gerechtigkeit, Güte,
Liebe hat ihre Begründung in sich selbst."
- "Natur"
als Grund des Entstehens und der Gestalt von Religion
In einer späteren Phase ("Das Wesen der Religion")
setzt Feuerbach das "Wesen des Menschen" nicht
mehr als unbefragte Prämisse voraus, sondern läßt
sie (ebenfalls reduktionistisch) in der "Natur"
verankert sein.
- "die Natur, die bewußtlose Natur, wird
bewußt in einem bestimmten Wesen, das desgleichen
zu ihr gehört, aus ihr entspringt und auf sie angewiesen
bleibt: dem Menschen."
- "Die Natur oder die Gottheit zeigt sich von
zwei Seiten: Ich lebe durch sie, weil sie mich schafft,
erhält und mich dies beglückt; ich erfahre
auch die dunklen Seiten der Natur, die mich in ihren
Katastrophen untergehen läßt."
- Schritt: Das Göttliche wird nicht mehr als das
vergegenständlichte Wesen des Menschen verstanden,
sondern als Prädikat der Natur und ihrer Erscheinungen.
Am zwingendsten zeigt sich die Abhängigkeit des
Menschen und der Religion von dem Naturereignis Tod:
- "Die Gräber sind die Geburtsstätten
der Götter" - "Wenn der Tod nicht
wäre, gäbe es keine Religion."
- Schritt: Für den Menschen ist es ein (letztlich
egoistischer) Akt der Befreiung aus seiner Abhängigkeit
von der Natur, sich von der Natur losgelöste göttliche
Wirklichkeiten zu schaffen. Die Religion wird das entscheidende
Mittel, womit der Mensch versucht, seine Abhängigkeit
von der Natur zu überwinden. Der Egoismus (der
Selbsterhaltung) ist also die tiefste Verwurzelung des
menschlichen Bedürfnisses nach Religion.
- "Was der Mensch nicht wirklich ist, aber
zu sein wünscht, macht er zu seinem Gott, oder
das ist sein Gott."
- "Hätte der Mensch keine Wünsche,
so hätte er auch keine Religion."
- "Der Mensch glaubt an Götter, nicht
nur weil er Phantasie und Gefühl hat, sondern
auch weil er den Trieb hat, glücklich zu sein.
Er glaubt ein seliges Wesen, nicht nur weil er eine
Vorstellung der Seligkeit hat, sondern weil er selbst
selig sein will; er glaubt ein vollkommenes Wesen,
weil er selbst vollkommen zu sein wünscht;
er glaubt ein unsterbliches Wesen, weil er selbst
nicht sterben will. Was er selbst nicht ist, aber
zu sein wünscht, das stellt er sich in seinen
Göttern als seiend dar. Die Götter sind
als wirklich gedachten, in wirkliche Wesen verwandelten
Wünsche des Menschen.
- Der Atheismus
als wahrer Humanismus
Grundlage der Religion ist für Feuerbach also die Göttlichkeit
der Natur, ihr Endzweck die Göttlichkeit des Menschen,
der wahre, befreitem zu sich selbst gelangte Humanismus.
Religionskritik verfolgt das Ziel, die Götter und Gott
zu entlarven, zu entmythologisieren und den Menschen sein
Ziel in sich selbst finden zu lassen. Sie will den Menschen
von der "Unwahrheit" der Religion befreien, von
Abhängigkeit, Furcht, Hilflosigkeit, Unwissenheit.
Atheismus ist nicht vollständige Leugnung:
- "ich negiere Gott heißt, ich negiere
die Negation des Menschen."
- Gottesglaube
als Wunschdenken
Die Götter werden in Korrelation zu menschlichen Wünschen
geformt. Dieser Aspekt der "theogenen Wünsche"
wird von Feuerbach besonders in der "Theogonie",
dem Werk, das er selbst für sein reifstes hält,
herausgearbeitet:
- "der Wunsch ist die Urerscheinung der Götter."
- Der Wunsch "ist ein Sklave der Not, aber
ein Sklave mit dem Willen zur Freiheit."
- "Wo der Mensch nichts mehr vermag, da kann
er wenigstens noch beten, noch wünschen."
- Würdigung: Bedeutung
der Religionskritik Feuerbachs und kritische Anfragen
- "Religion" wird durch Feuerbach zentrales
Thema. (Sein Umgang mit den Quellen wird allerdings
gern als tendenziös kritisiert);
- Er entwickelt die entscheidenden Kategorien moderner
Religionskritik:
- Entzweiung. Entfremdung
- Projektion
- Entlarvung, Desillusionierung, Entmythologisierung
("frommer Atheismus") durch anthropologisch-psychologische
Erklärungen der Religion als
- Projektion des unendlichen Wesens des Menschens
- Akt der Befreiung aus der Abhängigkeit
der Natur
- Produktion seiner Wünsche, Phantasie
und Selbstbejahung
- Er deckt vielfältiges Fehlverhalten der Religion
und besonders des Christentums im Verlauf ihrer Geschichte
auf (Intoleranz, Passivität, Machthunger,...).
Man kann kritisieren, dass er neben dem "Unwesen"
der Religionen ihre Leistungen zu kurz kommen läßt.
- Kritik an Feuerbach:
- Vorwurf der "petitio principii" (Erschleichung
des Beweisgrundes durch unbewiesene Voraussetzungen:
"unendliches Wesen des Menschen", "Natur"
und "Egoismus" sind metaphysisch vorbelastete
Begriffe und bleiben unklar).
- Vorwurf des Psychologismus: die psychologische
Erklärung einer Sache sage noch nichts über
deren Realität aus: E.v.Hertmann: "Wenn
die Götter Wunschwesen sind, so folgt daraus
für die Existenz oder Nichtexistenz gar nichts."
Feuerbach beweist nichts, sondern stellt eine bloße
Gegenthese auf: "homo homini deus" statt
"deus homini homo".
- Gegenfrage: "Ist das Brot das Produkt des
Hungers und das Licht das Produkt der Augen? Sollen
die Religion und das Christentum ihre Wahrheit vielleicht
dadurch beweisen, dass sie keinem Bedürfnis
des Menschen entsprechen und dass sie keinen seiner
Wünsche erfüllen?
- Feuerbach erklärt zwar Gott, aber er erklärt
nicht die Welt und den Menschen. Er stellt der traditionellen
These: "Die Menschen erklären sich von
Gott her" die Umkehr-These "Gott erklärt
sich von dem Menschen her" entgegen. Wie aber
verteilen sich Glaubwürdigkeit und Leistungsfähigkeit?
- Feuerbach erklärt den "Anthropomorphismus"
Gottes als Ergebnis der Projektion des Menschen auf
Gott. Ist er nicht eher das Ergebnis des "Theomorphismus"
(M. Scheler) des Menschen als Geschöpf von Gott
her?
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Sententiae excerptae: Lat. zu "Religionskritik" Literatur: zu "Religionskritik"4323
Kern, W. / Kasper, W.
Atheismus und Gottes Verborgenheit
in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, TBd.22, (Herder) Freiburg, Basel, Wien, 1982
4274
Lobkowicz, N. / Ottmann, H.
Materialismus, Idealismus und christliches Weltverständnis
in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, TBd.19, (Herder) Freiburg, Basel, Wien, 1981
1433
Rechenauer, G.
Rez. von SCHÄFER, Chr.: Xenophanes von Kolophon. Ein Vorsokratiker zwischen Mythos und Philosophie.
Stuttgart: Teubner, 1996. Gymnasium 106, 1/1999, 57-59.
1434
Schäfer, Chr.
Xenophanes von Kolophon. Ein Vorsokratiker zwischen Mythos und Philosophie.
Stuttgart: Teubner, 1996
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