Humanismus: Begriff und Formen
Auszüge aus:
- Der große Brockhaus, Wiesbaden 1979, s.v.
- Lexikon der Pädagogik, Freiburg 1953, s.v.
- RGG III, Tübingen 1959, s.v. (R.Stupperisch, W. Ruegg)
- K.Vorländer: Philosophie der Renaissance, Gesch.d.Philos.III,
Reinbek 1968
Der Begriff des Humanismus:
Humanismus" ist,
wie jeder -ismus" eine Parteibezeichnung. Aber was soll Parteinahme
für das Menschliche" heißen? - Offenbar, dass das Menschliche
in seinem allgemeinen selbstverständlichen Sinne so fragwürdig
geworden ist, dass es als Grenzwert gegen das Unmenschliche verteidigt
werden muss.
In weitestem Sinne meint Humanismus
also eine geistige Haltung, die die Würde des Menschen, die
Bedeutung der Einzelpersönlichkeit und die volle Entfaltung ihrer
Fähigkeiten betont, sich auf Humanität" und die damit
verbundenen praktischen Bestrebungen richtet: Der Mensch gilt nicht als
Naturding, als ein Lebewesen unter anderen, sondern unterscheidet sich
prinzipiell (nicht erst durch diese oder jene Eigenschaft) von allen anderen
Lebewesen.
In engerem Sinne meint Humanismus
jene geistigen Bewegungen in Europa, die aus dem Bezug auf die
wieder erschlossene altgriechische und römische Antike ein neues
Bildungsideal und Selbstverständnis zu gewinnen suchten, unterschieden
von dem umfassenderen (Kultur- und Epochen-) Begriff der Renaissance".
In der Antike stellt das Bemühen der Römer,
sich in der literarisch-philosophischen Auseinandersetzung mit dem Griechentum
eine eigene, dem freigeborenen Menschen gemäße Bildung zu erarbeiten,
eine Vorform des Humanismus dar. Auf dem Gebiet der Philosophie hat Cicero
das Entscheidende geleistet. Seinen Bildungsbegriff entwickelt er besonders
in der Rede für den Dichter Archias (bes. Cic.Arch.12-16)
und in seinen Ausführungen über den Scipionenkreis.
Die unmittelbare Überlieferung der antiken
Literatur und ihr Weg durch die Alexandriner, Martianus Capella, Boethius,
Cassiodor, Isidor von Sevilla; Alkuin, Hrabanus Maurus u.a. bezeichnet.
Weite Teile der alten Kultur wurden jedoch erst allmählich in Klosterbibliotheken,
durch die Kreuzzüge, arabische Übersetzer usw. entdeckt, in
Deutschland schon mit Förderung Karls d.Gr. (Karolingische
Renaissance") und der Ottonen (Ottonische Renaissance").
Der Humanismus des 12. Jh.
eröffnete das Zeitalter der höfischen Kultur; die antike Tradition
wurde besonders von der Schule von Chartres wieder aufgenommen. Es folgte
zum Ende des 12. und Anfang des 13. Jh. die Blüte der nationalen
Literaturen, die den Einfluss gelehrt-lateinischer Bildung zeigen (Gottfried
von Straßburg, Heinrich von Morungen u.a.).
Das kritische Verhältnis
des Humanismus zum Mittelalter und die Frage seiner Vorläuferschaft
zur Aufklärung werden grundsätzlich im Sinne einer allmählichen
Abkehr vom theozentrischen, jenseitsorientierten Denken des Mittelalters
gesehen:
Im Mittelalter war Religion die wichtigste öffentliche Angelegenheit. Der Klerus war unbestritten
der erste Stand. Das öffentliche wie das private Leben sahen ihre
Richtschnur im Willen Gottes. Das Christentum einte die Völker über
die Unterschiede der Nationen und Rassen hinweg. Bei Beginn des 14. Jh.
aber setzte, beeinflusst durch das Aufstreben der italienischen Stadtstaaten
und den beginnenden Welthandel, eine Säkularisierung aller
Verhältnisse ein. Damit änderte sich das persönliche Ideal
der Menschen. Nicht mehr der Heilige, sondern die kraftvolle, autonome,
rücksichtslos ihre Individualität auslebende Persönlichkeit
wurde ihr Ideal. Die Verherrlichung der Kraft ging so weit, dass zuweilen
alle Bindungen durchbrochen und auch das Verbrecherische verherrlicht
wurde. Das Empfinden für die Schönheit der Sprache, die Naturschönheit und für innere und äußere Persönlichkeitsstruktur
wurde ungemein gesteigert. Nun entstand ein neuer Typus des Gelehrten,
des Literaten. Er war nicht mehr vornehmlich Theologe, sondern pflegte
ein profanes Menschheitsideal. Er nannte sich daher Humanist",
und davon hat die ganze Bewegung ihren Namen.
Die große Kulturkrise
des Humanismus, die zusammenfällt mit außerordentlichen Ereignissen,
wie der Eroberung Konstantinopels durch die Türken 1453, der Entdeckung
der neuen Welt, der Erfindung der Buchdruckerkunst, der Enthüllung
der Rätsel des Universums, kam nur scheinbar zeitweise zur Ruhe.
Im ganzen ging die Säkularisierung unaufhaltsam in Richtung Aufklärung"
weiter.
Der neue Humanismus begann
mit dem 14. Jh. in Italien. Das gesteigerte Nationalbewusstsein, das hier
zuerst erwachte, hatte ein vermehrtes Interesse für die Geschichte zur Folge und damit auch für die Sprachen, in denen die Geschichtswerke
geschrieben waren, das klassische Latein und das Griechische. Planmäßige,
z.T. von den Päpsten veranlasste Forschungen nach Handschriften (Poggio) sicherten erneut das wichtigste Schrifttum der Römer, das
in großzügig angelegten Bibliotheken gesammelt (Vaticana 1480)
und später von humanistischen Druckern herausgegeben wurde. Das Reinigen
und Erklären der Texte entwickelte sich zu strenger Philologie (Lorenzo Valla). Als Muster und Vorbild der klassischen Sprache galt Cicero
(Petrarca). Durch Vermittlung byzantinischer Philologen wuchs seit
dem 15. Jh. auch die Beschäftigung mit dem griechischen Schrifttum;
besonders der Florentiner Neuplatonismus (M.Ficino) zog aus ihm
seine Kenntnisse. Mittelpunkt des italienischen Renaissance-Humanismus
waren das Florenz der Medici, das Rom der Päpste (bes. Pius II.),
die Fürstenhöfe in Urbino, Ferrara, Mantua und Neapel und die
Universitäten.
Kennzeichnend war der gesteigerte
Enthusiasmus in der Verehrung der Antike als Urbild. Hier fand
man auch das neue Menschheitsideal, das Bildungsziel der autonomen
Persönlichkeit, verkörpert. Mirandola (1463-94) glaubte,
die neue Würde des Menschen" entdeckt zu haben, und der Uomo universale, der allseitig gebildete und befähigte Mensch,
wurde das neue Ideal. Man wollte eine Wiedergeburt des Altertums heraufführen,
und daher bekam diese Epoche den Namen Renaissance".
Hatte man bisher die Antike als Vorstufe und Vorhalle des Christentums
und als Vorläufer der Gegenwart angesehen, so wird sie jetzt zum
Ideal und erhält Absolutheit der Form und teilweise auch des Inhalts
zuerkannt. Nicht Fortbildung, sondern Nachbildung der Antike ist das Ziel.
Die Überzeugung von der
Tragkraft des abstraktiv-dialektischen Denkens der Scholastik schwand.
Die Liebe der Denker richtete sich auf das Konkrete und Individuelle.
Da das Vertrauen auf die Begriffswelt erschüttert war, strebten die
Erkenntnisgebiete auseinander: sie strebten nach Autonomie und Autarkie und verweltlichten. Am meisten hatten unter der neuen Bewegung
die Vertreter der scholastischen Philosophie zu leiden, die allmählich
an den Hochschulen ihre Vorherrschaft zugunsten des Humanismus verloren.
Der Aristotelismus wurde durch einen christlich verstandenen Platonismus ersetzt. An Stelle der Philosophie trat vielfach die Rhetorik,
die sogar den Anspruch erhob, der Philosophie ihre Grundlagen zu geben.
Charakteristisch ist auch das
enge Verhältnis zur Kunst.
Trotz liberaler Auslegung der
christlichen Lehre versuchte der Humanismus immer noch, die Spannung zwischen
Antike und Christentum durch eine freie Religiosität"
auszugleichen, die den sittlichen Gehalt der Evangelien mit Platon und
der Stoa versöhnen wollte.
Von Italien aus fasste
der Humanismus in Deutschland im 14. Jh. am Hof Karls IV. Fuß. Im
Norden dann besonders durch die Reformkonzilien von Konstanz (1414/18)
und Basel (1431/49). Nach der Verlegung der Reichskanzlei nach Wien machte
der dorthin 1443 berufene Enea Silvio Piccolomini (als Papst Pius II.)
Schule; hier blühten durch Regiomontanus (1450/67) auch die Naturwissenschaften.
Humanistenkreise bildeten sich in Nürnberg (W.Pirckheimer u.a.),
Augsburg (K.Peutinger u.a.), Heidelberg (um Philipp den Aufrichtigen und
H.v.Dalberg) und Straßburg (J.Wimpfeling, Geiler von Kaisersberg,
S.Brant). Der Erzhumanist Conrad Celtis verbreitete den Humanismus
über ganz Deutschland. Die Hochstimmung der Blütezeit zeigt
sich in den Epistolae obscurorum virorum mit ihrer Satire auf das Mönchslatein
der Scholastik. Den Gipfel erreichte Erasmus von Rotterdam; Ulrich
von Hutten bezeugt bereits die Krise des Humanismus in der Reformationszeit.
Besonders in Deutschland und Frankreich beeinflusste der Humanismus die
Bewegung der Vorreformation und der Reformation. Einige Reformatoren
(Zwingli, Melanchthon, Bucer, Calvin) sind durch den Humanismus z.T. stark
beeinflusst worden. Zu einem eigentlichen Bündnis zwischen Humanismus
und Reformation kam es jedoch nicht. - Die Bewegung des Humanismus ergriff
nahezu alle bedeutenden Länder Europas: Frankreich (Jean de Montreuil,
G.Budaeus), Spanien (J.L.Vives), England (Th.Morus), die Niederlande (J.Lipsius,
D.Heinsius), Ungarn (Musenhof des Königs Matthias u.a.) und Polen
(Gregor von Sanok, J.Kochanowski). - Erbe des Humanismus in der Pflege
antiken Geistesgutes wurde besonders die klassische Philologie. Die abendländische
Dichtung sah lange Zeit die antike Poetik als maßgebend an.
Als Neuhumanismus wird die
Erneuerung der humanistischen Bewegung seit etwa 1750 und und die damit
verbundene erneute Hinwendung zum klassischen Altertum bezeichnet.
Das Bildungsideal des
älteren Humanismus hatte sich gewandelt: Lateinische Reden und Gedichte
waren aus der Mode gekommen. Die Diplomatie hatte aufgehört, sich
der lateinischen Sprache zu bedienen. Man strebte in der Zeit des Aufgeklärten
Absolutismus nach weltmännischer, galanter" Bildung. Doch
das Bewusstsein des formalen Wertes der klassischen Studien blieb
erhalten und gewann sogar neuen Auftrieb.
Angebahnt wurde der Neuhumanismus
durch W.Shaftesbury und die Philologen M.Gesner und Ch.G.Heyne in Göttingen,
J.A.Ernesti in Leipzig. F.A.Wolf wurde zum Hauptbegründer der Klassischen
Philologie. Winckelmann und Herder sahen die Idee der Humanität
in der harmonischen Geistes- und Leibesbildung der Griechen verwirklicht.
Die Epoche war zugleich eine Blütezeit künstlerischer Erneuerung
(Lessing, Goethe, Schiller, Hölderlin).
Kulturpolitisch wirkte W.v.Humboldt als Förderer des Neuhumanismus. Durch ihn fand das neuhumanistische
Bildungsideal seinen Weg in die Schulen. Lateinisch und Griechisch waren nun die Hauptfächer des Gymnasiums", wie
die Gelehrtenschule genannt wurde. Das Studium der lateinischen Grammatik und Stilistik sollte zur logischen Schärfe und Würde
des Gedankenausdrucks erziehen. Den Geist aber suchte und fand man mehr
bei den Griechen.
Im weiteren Verlauf des 19.
Jh. wurde eine schon in der Antike angelegte anthropozentrische Einstellung
(der Mensch das Maß aller Dinge), die z.T. auch von der Aufklärung
und dem Neuhumanismus eingenommen worden war, nun voll entfaltet (L.Feuerbach).
War der ältere Humanismus noch von dem Gedanken bestimmt, dass wahre Menschlichkeit sich in einem Bildungsprozess des einzelnen entwickeln
könne, so sah dieser philosophisch-politische Humanismus bald den
Begriff des Humanen mehr als gesellschaftliches Postulat. So erscheint
für M.Heß die wahre Lehre vom Menschen"
als die Lehre von der menschlichen Vergesellschaftung, d.h. Anthropologie
des Sozialismus". In Anknüpfung an Hegels Dialektik
von Herr und Knecht sah Karl Marx im Humanismus die Vollendung
der Vermenschlichung des Menschen, die Aufhebung der menschlichen
Selbstentfremdung durch den Kommunismus (Kommunismus als realer
Humanismus"). Zur Abgrenzung gegenüber dem dogmatischen
Marxismus-Leninismus haben in der Gegenwart verschiedene marxistische
Richtungen solche humanistische Ziele betont.
a) Philosophische Formen des Humanismus:
Idealistischer
Humanismus: Der Begriff Humanismus" wurde 1808 vom
bayrischen Schulreformer und Philosophen Fr.J.Niethammer geprägt,
um das althumanistische Gymnasium gegenüber den Realschulen der Aufklärung
durch eine idealistische Theorie zu verteidigen: Die harmonische Idealität
des griechischen Menschen bestimmt das Bildungsziel. Bildung heißt: ein Grieche werden. Der griechische Logos habe den Menschen
über die rohe Natur hinaus zum geistigen erhoben und damit seine
Humanität" begründet. Dieser Logos, in Christus Fleisch geworden, sei das Prinzip menschlicher Bildung und damit Grundlage
des Humanismus, der im Gymnasium die Humanität der Zöglinge
fördere, während die Aufklärung mit ihrer Richtung
auf Industrie, Gewerbefleiß und Nutzen auf die Animalität des
Menschen hinziele.
Dieser idealistische Humanismus
war in seinen konsequenten Trägern antichristlich, aristokratisch,
fortschritts-, ja gegenwartsfeindlich. Er wurde bald al reaktionär
und museal angegriffen.
Der Junghegelianer Arnold
Ruge bezeichnet 1840 (ausgehend von und im Gegensatz zu Niethammer)
als Humanismus das aus dem Griechentum abstrahierte dialektische Geschichtsprinzip
der Überwindung der Natur durch den Geist. Humanismus
ist darum für ihn selbstbewusste und als solche sich bewirkende
Aufklärung", eine Folge des Industrialismus und
der ideell gesetzten Materie", der Demokratie, Herrschaft
des Volkes und aller Menschen womöglich über die starre Natur
in sich und außer sich", Religion des Diesseits",
welche als das realisierte Christentum oder der Humanismus"
das alte Christentum"ersetzt (s.u.).
Jean
Paul Sartre verteidigte 1946 seinen Existentialismus gegen marxistische und katholische Kritiker, indem er ihn als Humanismus bezeichnete, freilich nicht als einen Humanismus, der von einer festen
Bestimmung des Menschen ausgehe, sondern als Lehre der menschlichen Verwirklichung,
bei der sich der Mensch in seine Ziele entwirft und in der ihm eigentümlichen Befreiung von seinen Bedingtheiten und der Verantwortung gegenüber
dem eigenen Entwurf über seine Existenz entscheidet. Da es außer
dieser Verwirklichung nichts gibt, keinen Gott, keinen anderen
Gesetzgeber, keine Welt, ist die dialektische Spannung zum formalen Gegensatz
von menschlichem Sein und Nichts herabgesunken; der Humanismus
hat jeden Sinn verloren und mündet in eine Anarchie von Humanismen,
aus der Sartre später in den marxistischen Humanismus abbiegt.
Martin
Heidegger entwickelt zur Frage, wie man dem Wort Humanismus
wieder einen Sinn geben könne, einen Humanismus des Seins, in dem
er zwar wie Sartre jede inhaltliche Bestimmung des Humanismus ablehnt,
jedoch Sartres ichbezogenen Standpunkt umkehrt und vom Sein ausgeht,
welches als Es ist es selbst" verabsolutiert und zum
Subjekt des Humanismus erhoben wird. Der Mensch ist nicht der Entwerfende,
sondern der Ent-wurf des Seins, der in seine Geworfenheit, in seiner
Seinsverlassenheit als Gegenwurf des Seins in die Lichtung des Seins tritt
und hier den Aufgang des Heilen und das Heilige erfahren kann.
Pragmatischer
Humanismus: Unabhängig von der europäischen
Tradition wurde der Pragmatismus William James´ als Humanismus
bezeichnet, weil hier die Wahrheit als eine Vielheit menschlich
bedingter und menschlich wirksamer Erkenntnisse begriffen und dementsprechend
das menschliche Verhalten nicht nach übernatürlichen Maßstäben,
sondern nach seinen individual- und mitmenschlichen natürlichen
Folgen beurteilt wird. Dieser pragmatische Humanismus hat besonders
durch John Dewey die amerikanische Pädagogik und Sozialphilosophie
des 20. Jh. bestimmt.
Der liberaldemokratische Humanismus:
Die idealistische Abstraktion
des Griechentums als Herrschaft des Geistes über die rohe Natur"
gilt nicht mehr als einmaliges klassisches Vorbild. An ihre Stelle tritt
der dialektische Aspekt der historischen Entwicklung, die postivistisch-rationale
Konstruktion von Lebens, bzw. das pragmatische Ziel des Erfolges.
Das konkrete Menschenbild ist der allgemein gebildete, aufgeklärte, beruflich erfolgreiche
Bürger, der recht tut und niemand scheut.
Kritik: Dieser liberaldemokratische
Humanismus hat in seinem schrankenlosen Vernunftglauben die Ehrfurcht
vor dem Unfassbaren und Unverfügbaren in- und außerhalb des
Menschen zerstört und damit das Maß für eine Bildung der
Menschlichkeit verloren, sich einem nicht mehr kontrollierten Spiel der
vom Menschen entfesselten historischen Kräfte, gipfelnd in Technik
und Demokratie, ausgeliefert und dem theoretisch freien, verantwortlichen
Bürger in Wirklichkeit den ohnmächtigen Bildungsphilister, den
egoistischen Bonvivant oder den manipulierbaren Erfolgsmenschen gegenübergestellt.
Die dialektische Ausrichtung:
Humanismus wird als historischer
Prozess verstanden, welcher in der Demokratie im Sinne der Nordamerikaner"
gipfele. Humanismus ist, wie es der erste Theoretiker dieser Auffassung,
Arnold Ruge, 1840 nennt, zu verstehen als Industrialismus und Demokratismus,
als säkularisiertes Christentum, als dialektischer Prozess der ideell
gesetzten Materie und der Selbstentfremdung des Menschen, als Weg der
Vernunft zur Freiheit durch die Geschichte, als Aufklärung, Fortschritt,
Beherrschung der Natur durch die Technik, Beseitigung der Armut und des
Proletariats durch Volkserziehung sowie durch freie Entwicklung des Individuums
im demokratischen Staat.
Die positivistische Ausrichtung:
Während in der dialektischen
Form des liberaldemokratischen Humanismus das Prinzip der Freiheit der
Vernunft historisch begründet wird, sind im französischen Positivismus
Freiheit und Vernunft zeitlose Prinzipien. Deshalb erhält die rationalistische
Konstruktion der Gegenwart (nach unhistorischen, naturwissenschaftlichen
Methoden) im positiven Humanismus" eine stärkere Bedeutung.
Eine nur darauf aufgebaute Bildung bildet nicht den Bildungsphilister,
sondern den Bonvivant aus, für den alle Werte vom Leben her bestimmt
werden. Die entfesselten vitalen Interessen des egoistischen Materialisten
verdrängen im Alltag den freien, verantwortlichen Bürger.
Die pragmatische Ausrichtung:
Freiheit und Vernunft
sind hier weder historisch determinierte Prinzipien noch zeitlos gültige
Prinzipien einer rationalistischen Konstruktion der Gegenwart. Aber auch
der pragmatischen Wertung des menschlichen Verhaltens liegt der Glaube
an ein freies Spiel rational begreifbarer Kräfte zugrunde. Oberster
Maßstab ist der Erfolg. Eine nur auf dem pragmatischen Humanismus
aufgebaute Bildung" vermeidet den Bildungsphilister und den
egoistischen Bonvivant, bildet aber den Menschen zum erfolgreichen Unternehmer
irgendeiner menschlichen Kraft aus, damit aber auch zum messbaren und
innerlich beherrschbaren Glied einer technischen Organisation.
Diese Ausrichtungen des liberaldemokratischen
Humanismus sind in der westlichen Welt heute noch maßgebend: Sie
beruhen auf philosophischen Theorien, die alle ins letzte Jahrhundert
zurückgehen und der heutigen Erkenntnistheorie keineswegs mehr entsprechen.
In einer Zeit, in der alle Wissenschaften die perspektivische Begrenztheit
ihrer Methoden zum Prinzip erhoben haben, können Menschenbilder auf
der Grundlage eines unbegrenzten Maßes, wie es der Begriff der Entwicklung,
des Lebens, des Erfolges in sich schließt, unmöglich die Bildungsgrundlage
darstellen.
Der marxistisch-sozialistische Humanismus:
Bereits in den Anfängen
wurde die Schwäche des liberaldemokratischen Humanismus, die Kluft
zwischen Theorie und Praxis, zwischen Ideologie und Wirklichkeit zum Ausgangspunkt
eines neuen Humanismus:
Karl Marx setzt gegen
Ruges ideologischen einen konkreten" oder realen
Humanismus", indem nicht der Industrialismus und die darin ideell
gesetzte Materie, sondern die Arbeit in der konkreten Gestalt des
selbstentfremdeten Proletariers zum dialektischen Prinzip der Geschichte
und deren Rückkehr zur menschlichen Natur wird. So stellt er 1844
die Gleichung auf: Dieser Kommunismus ist als vollendeter Naturalismus
= Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus; er ist die wahrhafte
Auflösung des Widerstreits zwischen dem Menschen mit der Natur und
mit dem Menschen [...]". Diese Begründung des Kommunismus
als Humanismus wird 1848 im Kommunistischen Manifest über Bord geworfen
und vom Kommunismus erst im Zeichen der Volksfrontbewegung der 30er Jahre
wieder aufgegriffen. Seitdem ist der Humanismus ein Grundbegriff der marxistischen,
besonders auch der sowjetischen Sozialphilosophie.
Die Dialektik zwischen Natur
und Geist, Geschichte und Freiheit wird im Marxismus im Begriff der Arbeit konkretisiert. Der Humanismus besteht in der materiellen Aufhebung
der Selbstentfremdung durch die geschichtliche Dialektik der Arbeit.
Es ist der Klassenkampf und die Revolution zur Herstellung einer freien
Gesellschaft, in der die Freiheit aller Menschen als Arbeiter durch eine
Herrschaft der Vernunft gesichert wird.
Bildung" auf der
Grundlage des marxistischen Humanismus bedeutet die vernunftmäßige
Erkenntnis und Beherrschung der Welt unter der Perspektive der Arbeit
als menschlicher Selbstentfremdung. Das Menschenbild ist der
revolutionäre Arbeiter. Der in Wirklichkeit sich selbst entfremdete
Mensch als Teil einer gelenkten Masse ist im Zukunftsbild ein freies,
verantwortliches Glied der Gesellschaft.
Verschiedene evangelische Richtungen
wollten unter Verzicht auf die antike und nachtestamentliche Tradition
ihr Menschenbild ausschließlich und direkt in der Bibel finden.
Kritik: Sofern dieses Menschenbild
dogmatische, das heißt inhaltlich verbindliche Züge aufweist,
kann es nicht einmal für die christlichen Konfessionen allgemeinverbindlich
sein. Insofern es aber existentielle oder überzeitliche Glaubenserfahrungen
auszudrücken versucht, ist es kein Humanismus, das heißt kein
rational begründetes Programm. Die evangelische Theologie lehnt daher
meistens den Christlichen Humanismus" als contradictio in
adiecto, als hölzernes Eisen" ab und spricht
von christlichem Glauben und Humanismus. Humanismus ist hier die geschichtliche
Bemühung des Menschen um eine sittliche Gestaltung des Lebens, die
erst durch die ganz andere Dimension des Glaubens christlichen Charakter
erhält.
In dieser Begrenzung des Humanismus
und des Glaubens auf verschiedene Dimensionen menschlicher Selbstbehauptung
ist eine humanistische Begegnung verschiedener Konfessionen möglich:
Es gibt nicht mehr nur einen Humanismus, sondern jeder Humanismus ist
begriffen als eine begrenzende Perspektive menschlicher Vernunft und Freiheit.
Einen sehr bedeutenden Versuch,
den idealistischen Humanismus neu zu begründen und damit der nach
dem 1.Weltkrieg fragwürdig gewordenen Gymnasialbildung in Deutschland
ihren Platz zurückzugeben, unternahm W. Jaeger: Das Griechentum muss darum unser zentraler Bildungsgegenstand sein, weil in ihm die geschichtliche
Entwicklung der Neuzeit in vorbildlichen Modellen zwar nicht in
idealer Vollendung, aber doch im wesentlichen Kern vorgestaltet erscheint.
Bildung besteht darin, Gegenwart aus ihrem griechisch-historischen Ursprung
zu erkennen und aus dieser Dimension sinnvoll zu gestalten.
Jaegers Humanismus entfaltete
keine allzu starke Wirkung: er blieb wegen seines Glaubens an unmittelbare
Theoria, wie er in der Betrachtung griechischer Kunst und Paideia als
Hauptbildungsmittel zum Ausdruck kommt, zu idealistisch und ging andererseits
in seiner Auffassung der Geschichte als Bildungsprozess zu wenig über
die hegelianische Konzeption der Geistesgeschichte hinaus.
Literatur:
- G.Toffanin: Geschichte des Humanismus, 1941 (aus d.Italien.)
- R.Newald: Humanitas, Humanismus, Humanität, 1947
- H.Weinstock: Die Tragödie des Humanismus, 4/1967 (hg.v. H.Oppermann,
1970)
- P.O.Kristeller: Humanismus und Renaissance I-II, 1974 (aus d.Engl.)
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