Briefe an seine Feunde
Cic.ad Q.fr.1,4
geschrieben um den 5. August 58 v.Chr. in Thessalonike |
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Marcus Tullius Cicero hält sich immer noch in Thessalonike auf. Er schreibt seinem Bruder Quintus über seine persönliche innere Verfassung und äußere Situation, ist aber noch mehr daran interessiert, etwas über die Entwicklungen in Rom zu erfahren. Er steht immer noch unter dem Zwang, sein Haneln zu rechtfertigen: Moralische Schuld hat er sich nicht vorzuwerfen, wohl aber eine gewisse kurzsichtige Gutgläubigkeit, die ihn sich sowohl in der Beurteilung der Personen täuschen ließ, als auch in der Hoffnung, die Verbannung sei nur kurzfristig. Gleichwohl ist seine Verzweiflung etwas abgklärter als im vorangehenden Brief (ad Q.fr.1,3) |
MARCUS QUINTO FRATRI SALUTEM |
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Marcus grüßt seinen Bruder Quintus |
1 |
Amabo te, mi frater, ne, si uno meo facto et tu et omnes mei corruistis, improbitati et sceleri meo potius quam imprudentiae miseriaeque assignes. Herzlich bitte ich dich, mein Bruder: Wenn du wie alle meine Lieben durch eine einzige Tat von mir zu Fall gekommen bist, so schreibe dies nicht eher einem unredlichen Frevel als einem törichten Missgeschick zu. nullum est meum peccatum, nisi quod iis credidi, a quibus nefas putaram esse me decipi, aut etiam, quibus ne id expedire quidem arbitrabar. Besteht doch meine einzige Verfehlung darin, denen vertraut zu haben, von denen getäuscht zu werden, wie ich glaubte, verrucht sei; oder nicht einmal vorstellen konnte, es könne ihnen von Vorteil sein. Intimus, proximus, familiarissimus quisque aut sibi pertimuit aut mihi invidit: ita mihi nihil misero praeter fidem amicorum cautum meum consilium fuit. Gerade meine innigsten, nächsten und vertrautesten Freunde fürchteten entweder für sich oder waren missgünstig auf mich. Und so fehlte es mir Armen nur an treuen Frunden und meiner Vorsicht im Planen. |
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quod iis credidi - damit meint er besonders Pompeius, von dem er geglaubt hatte, es sei für ihn von Vorteil (expedire) ihn zu unterstützen. |
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2 |
Quod si te satis innocentia tua et misericordia hominum vindicat hoc tempore a molestia, perspicis profecto, ecquaenam nobis spes salutis relinquatur: Wenn dich nun gegenwärtig deine Schuldlosigkeit und das allgemeine Mitleid hinlänglich vor Verlegenheit schützen, so kannst du wirklich auch herausfinden, ob mir noch eine Hoffnung auf Rettung bleibt. nam me Pomponius et Sestius et Piso noster adhuc Thessalonicae retinuerunt, cum longius discedere propter nescio quos motus vetarent. Denn mich haben Pomponius und Sestius und mein Piso bisher immer noch in Thessalonike festgehalten, weil (wie sie sagten) gewisse Entwicklungen von einer weiteren Reise abrieten. verum ego magis exitum illorum litteris quam spe certa exspectabam; nam quid sperem potentissimo inimico, dominatione obtrectatorum, infidelibus amicis, plurimis invidis? Übrigens ließen mich mehr ihre Briefe als eine begründete Hoffnung einen Erfolg erwarten. Denn worauf hätte ich hoffen sollen bei dem übergroßen Einfluus meiner Feinde, der Machtfülle meiner Gegner, der Untreue meiner Freunde, dem Neid der meisten? |
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innocentia tua - Quintus drohte in Rom ein Repetundenprozess wegen angeblicher Erpressungen als Statthalter in Asia. P. Sestius war 57 v.Chr als Tribun Gegner des P.Clodius und wurde im nächsten Jahr auf dessen Betreiben angeklagt und von Marcus Ciceroerfolgreich verteidigt. C.Calpurnius Piso war Ciceros Schwiegersohn. Er starb noch vor Ciceros Rückkehr aus der Verbannung. longius discedere - Ciceros eigentliches Ziel war Kyzikos. Der Grund dafür, dass er immer noch in Thessalonike ist, sei nicht etwa die Hoffnung, bald nach Rom zurückzudürfen, sondern die Freundlichkeit, die sich in den Briefen seiner Freunde ausdrücke. potentissimo spielt auf P. Clodius an, dominatione auf die Triumvirn.
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3 |
De novis autem tribunis plebis est ille quidem in me officiosissimus Sestius et, spero, Curius, Milo, Fadius, Fabricius, sed valde adversante Clodio, qui etiam privatus eadem manu poterit contiones concitare; deinde etiam intercessor parabitur. Von den neuen Volkstribunen ist Sestius jedenfalls sehr zuvorkommend; Curius, Milo, Fadius und Fabricius hoffentlich auch. Clodius aber ist ein unerbittlicher Gegner. Auch ohne Amt wird er mit derselben Bande die Versammlungen in Aufruhr versetzen können, schließlich noch einen Widerspruchsführer in Bereitschaft halten. |
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novis tribunis - 58 v. Chr. für das folgende Jahr gewählt. Sie setzten sich wirklich mit Erfolg für die Rückkehr Ciceros ein: Fabricius mit einem entsprechenden Antrag im Senat und T. Annius Milo mit seinen Kämpfen gegen die Clodianer. intercessor parabiter - ein Tribun, der im Auftrag des Clodius gegen die Rückkehr Einspruch einlegen werde. Als solcher trat 57 v.Chr.Atilius Serranus auf. |
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4 |
Haec mihi proficiscenti non proponebantur, sed saepe triduo summa cum gloria dicebar esse rediturus. Dies hat man mir bei meiner Abreise vorenthalten, sondern mehrfach hieß es, ich würde innerhlb dreier Tage hochgeehrt zurückkehren. "Quid tu igitur?" inquies. Quid? multa convenerunt, quae mentem exturbarent meam: subita defectio Pompeii, alienatio consulum, etiam praetorum, timor publicanorum, arma. "Nun, was dachtest du dabei?" wirst du sagen. Was? Es kam so viel zusammen, das mir ganz die Sinne raubte: der plötzliche Abfall des Pompeius, die Entfremdung der Konsuln, sogar der Prätoren, die Furcht der Steuerpächter, sogar Waffengewalt. Lacrimae meorum me ad mortem ire prohibuerunt; quod certe et ad honestatem et ad effugiendos intolerabiles dolores fuit aptissimum. Die Tränen meiner Lieben hielten mich davon ab, mir den Tod zu geben; und doch wäre dies auf jeden Fall meiner Ehre am angemessensten gewesen und hätte mir unerträgliche Leiden erspart. Sed de hoc scripsi ad te in ea epistula, quam Phaethonti dedi. Doch hierüber habe ich dir in dem Brief geschrieben, den ich Phaethon mitgegeben habe. Nunc tu, quoniam in tantum luctum laboremque detrusus es, quantum nemo umquam, si levare potes communem casum misericordia hominum, scilicet incredibile quiddam assequeris; sin plane occidimus — me miserum! — ego omnibus meis exitio fuero, quibus ante dedecori non eram. Da du jetzt in einen solchen Jammer und in solche Drangsal hinabgestoßen bist, wie noch keiner jemals zuvor – wenn es dir gelingt, durch das Mitleid der Menschen unserem gemeinsamen Unglück ein Ende zu machen, so wirst du etwas schier Unglaubliches erreichen. Bin ich aber ganz verloren, werde ich Unglückseliger das Verderben über alle meine Lieben gebracht haben, denen ich zuvor nie Schande bereitet habe. |
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defectio - Abfall von Cicero und der Senatspartei. timor publicanorum - die Steuerpächter standen als Ritter auf Ciceros Seite. Ihre Furcht vor den Umtrieben des Clodius ließ sie untätig bleiben. Phaethonti - Phaeton ist der Sklave, der den vorausgehenden Brief an Quintus (1,3) aus Thessalonike nach Rom gebracht hatte. |
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5 |
Sed tu, ut ante ad te scripsi, perspice rem et pertenta et ad me, ut tempora nostra, non ut amor tuus fert, vere perscribe: ego vitam, quoad putabo tua interesse aut ad spem servandam esse, retinebo. Doch erforsche, wie ich dir früher schon schrieb, und erprobe die Lage; schreibe mir dann ganz wahrheitsgemäß, wie es meiner Lage, nicht wie es deiner Liebe entspricht. So lange will ich am Leben festhalten, als ich glaube, mein Leben habe einen Wert für dich, oder es gebe noch Hoffnung für mich. Tu nobis amicissimum Sestium cognosces; credo tua causa velle Lentulum, qui erit consul: quamquam sunt facta verbis difficiliora. Dass Sestius mir innigst zugetan ist, wirst du merken. Dir aber, glaube ich, will der künftige Konsul Lentulus sehr wohl. Doch Handeln fällt schwerer als Reden. Tu et quid opus sit et quid sit videbis. Sieh also zu, was nötig ist und wie es steht. Omnino, si tuam solitudinem communemque calamitatem nemo despexerit, aut per te aliquid confici aut nullo modo poterit; sin te quoque inimici vexare coeperint, ne cessaris, non enim gladiis tecum, sed litibus agetur. Wenn niemand dich wegen deiner Verlassenheit und uns beide wegen unseres Unglücks verachtet, lässt sich von deiner Bemühung noch etwas erwarten, oder es ist durch kein Mittel mehr etwas auszurichten. Wenn aber unsere Feinde sich auch an dich machen, dann zögere nicht! denn sie werden nicht mit Schwertern, sondern mit Prozessen gegen dich auftreten. Verum haec absint velim. Doch möge das fernbleiben! Te oro, ut ad me de omnibus rebus rescribas et in me animi aut potius consilii minus putes esse quam antea, amoris vero et officii non minus. Nochmals bitte ich dich: schreibe mir ja über alles, was vorgeht, und solltest du mir auch weniger Mut oder Einsicht als früher zutrauen, so doch nicht weniger Liebe und Pflichtgefühl! [Scr. Thessalonicae mense Sextili a.u.c. 696.] (Gegeben in Thessalonike im Monat August 58 v.Chr.) |
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Lentulus - In der Hoffnung, die Cicero auf Publius Cornelius Lentulus Spinther setzt, wurde er, als dieser 57 v. Chr. Konsul war, nicht enttäuscht. |
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