Lateinische Übungstexte zu Senecas Briefen mit einer wörtlichen deutschen Übersetzung und Anmerkungen.

 

Besonders zur Vorbereitung auf das Latinum 

(Sen.epist.120,10)

 

Sen.epist.120,10ff
Seneca über die Entstehung der sittlichen Werte

 

Seneca Lucilio suo salutem.

Epistula tua per plures quaestiunculas vagata est, sed in una constitit et hanc expediri desiderat, quomodo ad nos boni honestique notitia pervenerit. Hoc nos natura docere non potuit: semina nobis scientiae dedit, scientiam non dedit. Quidam aiunt nos in notitiam incidisse primam, quod est incredibile, virtutis alicui speciem casu occucurrisse: nobis videtur observatio collegisse et rerum saepe factarum inter se conlatio. Per analogian nostri intellectum esse et honestum et bonum iudicant. Quae sit haec analogia, dicam. Noveramus corporis sanitatem: ex hac cogitavimus esse aliquam et animi. Noveramus vires corporis: ex his collegimus esse et animi robur. Aliqua benigna facta, aliqua humana, aliqua fortia nos obstupefecerant: haec coepimus tamquam perfecta mirari. Suberant illis multa vitia, quae species conspicui alicuius facti fulgorque celabat: haec dissimulavimus. Natura iubet augere laudanda, nemo non gloriam ulta verum tulit: ex his ergo speciem ingentis boni traximus. Fabricius Pyrrhi regis aurum reppulit maiusque regno iudicavit regias opes posse contemnere. Idem medico Pyrrhi promittente venenum se regi daturum monuit Pyrrhum caveret insidias. Eiusdem animi fuit auro non vinci, veneno non vincere.Admirati sumus ingentem virum, quem non regis, non contra regem promissa flexissent, boni exempli tenacem. Haec et eiusmodi facta imaginem nobis ostenderunt virtutis.

Seneca grüßt seinen Lucilius,

Dein Brief ist durch mehrere kleine Fragen gestreift, hat aber bei einer (Frage) haltgemacht und wünscht, dass dies (w. diese sc. Frage) dargelegt wird, wie zu uns die Kenntnis des Guten und des Sittlichen gekommen ist. Dies konnte uns die Natur nicht lehren: Samen zur Weisheit (zum Wissen) gab sie uns, die Weisheit (selbst) gab sie (uns) nicht. Manche sagen, dass wir durch Zufall zur ersten Kenntnis gelangt seien (sind). was unglaubwürdig ist, dass irgendwem die Vorstellung sittlicher Vollkommenheit durch Zufall zugefallen ist: uns scheint (dagegen) die Beobachtung dies geleistet haben und der Vergleich oft durchgeführter Handlungen miteinander (w. untereinander). Unsere Philosophen urteilen, dass durch Analogie sowohl das Sittliche als auch das Gute wahrgenommen worden sei (ist). Was diese Analogie ist, werde ich sagen (erklären). Wir hatten die Gesundheit des Körpers kennen gelernt: daraus folgerten wir, dass auch (irgend)eine des Geistes existiere. Wir hatten die Kräfte des Körpers kennen gelernt: daraus (w. aus diesen) folgerten wir, dass auch eine Kraft des Geistes existiere. Irgendwelche gütigen, menschlichen und mutige Taten hatten uns in Staunen versetzt: Wir begannen diese wie vollkommene (Taten) zu bewundern. Und doch lagen jenen (Taten) viele Fehler zugrunde, die der Anblick und der Glanz einer in die Augen fallenden Tat verbargen: diese Fehler haben wir verleugnet. Die Natur befiehlt, das Lobenswerte zu steigern, und jeder hat (schon) den Ruhm über das Wahre (o. die Wahrheit, das wahre Maß) hinaus getragen: daraus haben wir also die Vorstellung eines ungeheuer großen sittlichen Gutes abgeleitet, Fabricius hat das Gold des Königs Pyrrhus zurückgewiesen und (dies) für bedeutsamer als Herrschaft beurteilt, königlichen Reichtum verachten zu können. Derselbe hat, als der Arzt des Pyrrhus versprach, dass er dem König Gift geben werde, den Pyrrhus gemahnt, sich vor einem Hinterhalt in acht zu nehmen. Ausdruck derselben Geistes(kraft) war es, durch Gold nicht besiegt zu werden, durch Gift nicht zu siegen. Wir haben einen außerordentlichen Mann bewundert, den nicht die Versprechen des Königs, aber (auch) nicht die Versprechen gegen den König gebeugt hatten, der am guten Beispiel (b. an der beispielhaften Haltung) festhielt. Diese und derartige Taten haben uns die Vorstellung der sittlichen Vollkommenheit offenbart.

 

constitit: zu consistere - expedire h.: "darlegen" - desiderare = cupere mit A.c.I. - honestum, i n.: "das Sittliche" - incidere in + Akk.: "durch Zufall gelangen zu" - species virtutis h.: "die Vorstellung der sittlichen Vollkommenheit" - colligere h.: "dies leisten" - conlatio, onis f.: "der Vergleich" - nostri: "unsere Philosophen": gemeint sind die Stoiker - intellectum: erg. "esse" - cogitare, colligere h.: "folgern" - mirari: "bewundern" - subesse h.: "zugrunde liegen"; beginnen Sie den Satz mit "und doch". - illis: sc. factis - vitium h.: "Fehler" - species, iei f.: "der Anblick" - nemo non: "jeder" - ingens bonum: "ein unvorstellbar großes sittliches Gut" - Fabricius: römischer Staatsmann aus der Zeit der Kriege gegen Pyrrhus (280-272 v.Chr.). Seine Geschichte ist stark ausgeschmückt, so dass er zu einem Muster römischer Tugend geworden ist. - bonum exemplum: "beispielhafte Haltung".
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