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Da das Persönlichkeitsbild des Angeklagten für die Glaubwürdigkeit
der im zur Last gelegten Verbrechen von großer Bedeutung ist,
kann der Ankläger nicht darauf verzichten, ein möglichst negatives
"curriculum vitae" zu zeichnen. Im vorigen Text (Cic.
Verr. 2, 3, 47) wurde der Angeklagte nur indirekt durch die "Verwüstungen",
die er in Sizilien zurückgelassen
hat, charkterisiert. Hier spricht Cicero zwar unmittelbar zur Person,
aber zunächst auch nicht in direkter Weise, sondern er bedient
sich in einer groß angelegten Weise der Redefigur der Praeteritio:
[32] nunc mihi temporis eius, quod
mihi ad dicendum datur, quoniam in animo est causam omnem exponere,
habenda ratio est diligenter.
itaque primum illum actum istius vitae turpissimum et flagitiosissimum
praetermittam. nihil a me de pueritiae suae flagitiis audiet, nihil
ex illa impura adulescentia sua; quae qualis fuerit, aut meministis
aut ex eo, quem sui simillimum produxit, recognoscere potestis.
omnia praeteribo, quae mihi turpia dictu videbuntur, neque solum
quid istum audire, verum etiam quid me deceat dicere, considerabo.
vos, quaeso, date hoc et concedite pudori meo, ut aliquam partem
de istius impudentia reticere possim. [33] omne illud tempus, quod
fuit, antequam iste ad magistratus remque publicam accessit, habeat
per me solutum ac liberum. sileatur de nocturnis eius bacchationibus
ac vigiliis; lenonum, aleatorum, perductorum nulla mentio fiat;
damna, dedecora, quae res patris eius, aetas ipsius pertulit, praetereantur;
lucretur indicia veteris infamiae; patiatur eius vita reliqua me
hanc tantam iacturam criminum facere.
[34] quaestor Cn. Papirio consuli fuisti abhinc annos quattuordecim.
ex ea die ad hanc diem quae fecisti, in iudicium voco: hora nulla
vacua a furto, scelere, crudelitate, flagitio reperietur. hi sunt
anni consumpti in quaestura et legatione Asiatica et praetura urbana
et praetura Siciliensi; quare haec eadem erit quadripertita distributio
totius accusationis meae.
Aufgaben:
- Bestimmen Sie die Anfangswörter der beiden ersten Absätze
(nunc - itaque) möglichst genau in ihrer sachlichen Bedeutung
und ihrem gegenseitigen Bezug!
- nunc: Besonderheit der Redesituation: Dilemma: Zeitknappheit
<--> Stoffülle
- itaque: Konsequenz: Strategiekonzept zur Lösung:
praeteritio
- a) Mit welchen Prädikatsgruppen weist der Text selbst auf
diese Stilfigur als bestimmender Gestaltungsform hin? b) Mit welchem
verbalen Ausdruck macht Cicero kenntlich, dass er vom "Verschweigen"
zur direkten Darstellung zurückkehrt? (Achten Sie auf die syntaktischen
Variationen!)
- Kennzeichnung der Praeteritio:
- praetermittam (3)
- nihil audiet de..., nihil ex... (3f)
- omnia praeteribo... (5)
- aliquam partem... reticere (6) ["reticentia"
ist ein terminus technicus der Rhetorik]
- omne illud tempus... habeat per me solutum ac liberum
(6f)
- sileatur de... (7)
- leonum... nulla mentio fiat (8)
- damna, dedecora... praetereantur (8)
- lucretur indicia veteris infamiae (9)
- patiatur eius vita reliqua me hanc tantam iacturam
criminum facere (9f)
- Kennzeichnung der direkten Darstellungsform:
- Wie begründet Cicero die Anwendung dieser Stilfigur im einzelnen?
Ein Blick in ein rhetorisches Handbuch zeigt, dass Cicero hier
fast alle gängigen Begründungen für die Figuren der
"brevitas" verwendet: festinatio, perspicuitas, aptum
- Stoffülle <--> Zeitknappheit (nunc mihi
temporis..., quoniam in animo est causam omnem exponere, habenda
ratio est, 1f)
- Allgemeine Bekanntheit, leichte Erschließbarkeit
(aut meministis aut ..recognoscere potestis, 4)
- Schamgefühl des Redners und Unziemlichkeit der Ausführung
(omnia praeteribo, quae mihi turpia dictu videbuntur, ...quid
me deceat dicere, considerabo, 5) (date hoc et concedite pudori
meo, 6)
- Informieren Sie sich über Begriff, Besonderheit und Wirkung
der "praeteritio"!
- Praeteritio: Es wird vorgegeben, dass etwas scheinbar
Unwichtiges übergangen wird. Es wird jedoch angeführt
und dadurch besonders betont (cf. Ironie ).
http://www.kreienbuehl.ch/lat/latein/stilmittel.html
- Paraleipsis, Praeteritio: Das ausdrücklich erwähnte
Übergehen von Aspekten, die an sich zur Erörterung
einer Sache gehören, erzeugt den Schein sachlicher Konzentration,
bietet aber - zumindest bei Weglassung von Wichtigem - dieselbe
sophismatische Mißbrauchsmöglichkeit wie das Pysma
[sc.: lässt dem Redner alle Möglichkeiten auch mißbräuchlicher
Verkürzung oder Verzerrung der Wahrheit]. Beispiel: 'Ich
übergehe hier aus Zeitgründen die schwierige Frage,
ob...' 'Dazu wäre noch viel zu sagen'.
http://www.tu-berlin.de/fb1/AGiW/Scriptorium/S16.htm
(Täuschung als Erfolgsprinzip öffentlicher
Argumentation).
(Englisch sprachige Adresse: http://www.uky.edu/cgi-bin/cgiwrap/~scaife/terms?file=1ahrd.html&isindex=Praeteritio)
- In welchem welchem wesentlichen Punkt unterscheiden sich die
beiden zitierten Definitionen [a) und b)]?
- Für a) ist die Ironie ("vorgeben")
der Figur wesensimmanent, für b) nicht. Dies zeigen
auch die beiden Beispiele. Wie müssten sie lauten,
damit sie zu a) passen?
- Stellen Sie sich eine einfache, textunabhängige Redesituation
vor (z.B. eine Familienfeier, ein Betriebsjubiläum, einen wissenschaftlichen
Vortrag oder ein Plädoyer bei Gericht) und überlegen Sie
Wendungen (Floskeln), mit denen der Redner ausdrückt, dass
er "sich kurz fassen" oder "einiges auslassen"
will.
Aus den drei Motivationen für verkürzende Darstellungsformen
(brevitas), nämlich: Eile, Durchsichtigkeit und Unanständigkeit,
lassen sich unbegrenzt viele Redewendungen ableiten. Beispiele
A) Zur Eile (festinatio): 1. Ich übergehe hier aus Zeitgründen,
dass... (ob...); 2. Damit wir noch rechtzeitig nach Hause kommen,
muss ich jetzt leider auslassen, das... ; 3. Da Sie mir keine ländere
Redezeit einräumen, muss ich leider abbrechen, bevor ich...;
4. Dazu wäre noch viel zu sagen (z. B. dass...), aber die Zeit
drängt. 5. Es würde Tage dauern, wollte ich ausführen,
wie...
B.) Zur Durchsichtigkeit (perspicuitas): 1. Ihr könnt euch
selbst an den fünf Fingern abzählen, dass (wie...); 2.
Sie wissen selbst besser als ich, dass...; 3. Sollte ich Eulen nach
Athen tragen, indem
ich Ihnen ausführe, dass... (wie...).
C) Zur Angemessenheit (aptum): 1. Es würde Ihnen (mir) die
Schamröte ins Gesicht treiben, müssten Sie hören
(ich ausführen), dass... (wie...); 2. Um nicht die Würde
dieses Hauses zu verletzen, übergehe ich, wie... 3. Es wäre
unangemessen, Sie hier mit meinen Ausführungen über....
länger festzuhalten (Verbindung von A und C). 4. Es wäre
unangemessen, Sie hier mit Banalitäten wie.... länger
zu langweilen (Verbindung von A, B und C)
- Welche strategischen Ziele (Hörerlenkung) verfolgt ein Redner
mit den Figuren der Kürze?
Allgemein: a) Erfüllung einer Hörererwartung, b) Vermeidung
einer Hörerenttäuschung, c) manipulative Absichten.
- Erfüllung einer Hörererwartung: Der Redner unterstellt
den Hörern Ungeduld, weil sie die Rede etwa langweilig
finden oder Besseres vorhaben.
- Vermeidung einer Hörerenttäuschung: Der Redner
befürchtet, die Zuhörer erhofften eine ausführlichere
Darstellung. Also begründet er seine Kürze und beugt
so einer Enttäuschung der Hörererwartung vor.
- Manipulative Absichten:
- Der Redner suggeriert, es gebe noch mehr zu sagen.
Damit täuscht er (manipulatorisch) über sein dürftiges
Wissen oder den in Wahrheit geringen Stoffumfang (Mangel
an Beweismaterial) hinweg. [Dieser Verdacht liegt besonders
nahe, wenn er, wie Cicero, das, was er eigentlich verschweigen
wollte, durch eine Fülle von Epitheta aufwertet].
- Angebliches "Verschweigen" als rhetorisch
wirkungsvolle (affektsteigernde) Form der Darstellung (Ironie
als Mittel der Elocutio).
- Der Redner vertuscht eine unvollständige und
ungeordnete Stoffauswahl mit den gängigen Motivationen
der Präteritio (Eile, Durchsichtigkeit, Unangemessenheit)
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