Sophokles: Philoktet
I. Einführung im Griechischunterricht
zum Zweck eines Theaterbesuches
 
Ἅπαντα
δυσχέρεια, τὴν αὑτοῦ φύσιν
ὅταν λιπών τις δρᾷ τὰ μὴ προσεικότα.
Soph.Phil.902f |
Zu groß,
zu schwer wird alles, wenn der Mensch, sich selbst
Verleugnend, tut, was keines Menschen würdig ist. |
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Rotfiguriger
attischer Aryballos (4. Jh.v.Chr., Privatbesitz):
"Philoktet in dorischem Chiton sitzt auf einem Felsen unter
den Ästen eines laublosen Baumes, das linke Knie hochgezogen,
die linke Hand am Knie. Das linke Bein ist unter- und oberhalb
der Ferse verbunden, der ausgestreckte rechte Arm auf den
Boden aufgestützt. Das Haupt- und Barthaar ist voll, aber
nicht wild, der Kopf etwas geneigt. Der Blick gehtvreloren in
die Ferne. Neben Philoktet lehnt der Bogen und der Köcher
am Gestein. Das ganze ist mehr ein Bild des einsam trauernden,
als des von Schmerzen gepeinigten Philoktet; vielleicht eine gemilderte
Wiedergabe des von Parrhasios verfertigten Gemäldes." |
Bild- und Textquelle: H.Roscher, III2, Sp. 2334f. |
Sophokles:
Seinen Philoktet führte Sophokles 409 v.Chr. auf. Der Stoff war
den Zuschauern nicht, wie man meinen könnte, aus der Ilias Homers
vorgegeben, - dort gibt es nur wenige Hinweise - sondern aus anderen,
uns verlorenen Werken: den Kyprien, der Kleinen Ilias, einem Dithyrambos
des Bakchylides und dem gleichnamigen Stück des Aischylos, von dem
wir so gut wie nichts wissen. Euripides hatte ebenfalls, schon 431 v.Chr.,
einen (verlorenen) Philoktet (zusammen mit der Medeia) auf die Bühne
gebracht. Aufschlussreich ist trotz seiner Lücken ein Vergleich der
drei Tragödien durch Dion Chrysostomos (or.52). Bei Euripides gibt
Philoktet dem Werben des Odysseus und des Diomedes nach, weil seine nationalgriechische
Einstellung (zu Beginn des Peloponnesischen Krieges durchaus noch verständlich)
über seine persönliche Verbitterung obsiegt. Eine Neuerung
des Sophokles war die Besetzung des Chores: Bei Aischylos und Euripides
bilden Bürger von Lemnos den Chor. Bei Sophokles ist Philoktets Isolation
auf die Spitze getrieben: Lemnos ist unbewohnt, daher tritt die Schiffsmannschaft
des Neoptolemos in dieser Funktion auf.
Aufbau bei Sophokles
- Prolog 1-134: Vorspiel mit Exposition
von Vorgeschichte, Situation, handelnden Personen, charakterlichen
Dispositionen, Handlungsintentionen: Nachdem Neoptolemos Philoktets
Höhle eindeutig identifiziert hat, weiht Odysseus ihn in seinen
Plan ein: Er soll Philoktet täuschen und ihm so den Bogen ablisten.
Neoptolemos weigert sich zunächst, sich derart unrühmlich
zu verhalten, willigt aber, als ihm Odysseus klar macht, dass es keine
Alternative gibt, um der gemeinsamen Griechensache willen ein. Neoptolemos
erscheint für die Intrige besonders geeignet: erstens ist
er Philoktet unbekannt, außerdem kann er sich sein Vertrauen
erschleichen, indem er vorgibt, er habe denselben Feind wie Philoktet:
Odysseus nämlich, der ihm mit Achilleus' Waffen das rechtmäßige
Erbe seines Vaters vorenthalte. Deswegen fahre er im Zorn von Troia
zurück in seine Heimat auf Skyros.
- Parodos 135-218: Einzugslied des Chores. Odysseus hatte sich
entfernt und die Bühne (Handlungsinitiative) Neoptolemos überlassen.
- 1. Strophe, während der der Chor, die Schiffsmannschaft
des Neoptolemos, zur Höhle Philoktets auf- und wieder absteigt:
Er erbittet, weil er um Philoktets Gefährlichkeit weiß,
Anweisungen von Neoptolemos. Neoptolemos lädt ihn ein, solange
Philoktet nicht da ist, sich mutig seine Höhle anzusehen,
falls er aber erscheint, ihm zur Seite zu stehen. Der Chor folgt
seinem Vorschlag, fragt aber mehrfach ängstlich nach Philoktets
Verbleib. Neoptolemos erklärt, er vermute, dass Philoktet
auf Nahrungssuche sei.
- 2. Strophe: Der Chor äußert Mitleid mit Philoktet
wegen seiner Einsamkeit und seiner Krankheit. Seine Situation
ist seiner Herkunft und Stellung nicht angemessen (169-190). Neoptolemos
(191-200) erklärt sein unmenschliches Schicksal von den Göttern
her, als Strafe der Nymphe Chryse. Die Fahrt nach Troia wird seinem
Leid auf Lemnos ein Ende setzen.
- 3. Strophe: Der Chor bemerkt am Stöhnen und schweren Gang
Philoktets, dass er naht
- 1. Epeisodion (219-675): Neoptolemos täuscht Philoktet
mit seiner Lügengeschichte.
- 1. Teil (219-390): Philoktet ist erfreut Menschen seiner Sprache
anzutreffen. Auf seine Frage nach dem Woher und Wohin erzählt
ihm Neoptolemos die vorbereitete Lügengeschichte: er habe
Troia im Zorn auf den Rücken gekehrt und sei auf dem Weg
zurück in seine Heimat.
- 1. Zwischenlied (391-402): Der Chor verstärkt Neoptolemos'
Lüge, indem er die göttliche Mutter Erde wie schon
in Troia in einem Gebet um Rache an den Atriden anfleht, die
seinem Herrn die Waffen seines Vaters verweigert hätten.
- 2. Teil (403-506): Philoktets Frage, wieso denn Aias oder Nestor
die Schandtat der Atriden habe durchgehen lassen, erklärt
Neoptolemos, dass Aias inzwischen tot sei und Nestor in Trauer
um seinen Sohn Antilochos liege. Als Neoptolemos vorgibt, sich
verabschieden zu wollen, bittet ihn Philoktet, ihn auf seinem
Schiff mit zu seinem Vater nach Griechenland oder doch wenigstens
bis Euboia mitzunehmen.
- 2. Zwischenlied (507-518): Der Chor dringt in Neoptolemos,
sich der Bitte des Leidensmannes nicht zu entziehen. Auch
jetzt ist seine Bitte, klingt sie auch noch so glaubhaft,
ganz im Sinne der Intrige.
- 3. Teil (519-675): Neoptolemos öffnet sich der Bitte und
beglückt Philoktet mit seiner Zusage. Da tritt, wie Odysseus
bereits am Ende des Prologs angekündigt hatte, der Späher
(σκοπός) als Kaufmann (ὡς ἔμπορος) verkleidet in Begleitung eines
Matrosen, um das Geschehen zu beschleunigen.
- Kauffahrerszene (542-627): Seine Darstellung macht
die Intrige noch glaubhafter und verstärkt sie:
- Phoinix und die Söhne des Theseus seien unterwegs,
um ihn zurückzuholen;
- Odysseus und Diomedes seien auf dem Weg nach Lemnos,
um Philoktet mit List oder Gewalt nach Troia zu holen,
weil ohne ihn nach dem Spruch des Helenos die Stadt nicht
zu nehmen sei.
- Diese zusätzliche Lüge erfüllt darin ihr
Ziel, dass Philoktet jetzt nichts dringlicher sein muss, als
Neoptolemos' Schiff zu besteigen, ihr Risiko aber liegt darin,
dass sie Neoptolemos noch mehr zumutet, als er so wie so schon
notgedrungen mitträgt.
- Entsprechend schließt das Epeisodion (628-675) mit
Philoktets Bitte um schnelle Abfahrt. Noch einmal geht er
(mit Neoptolemos) in die Höhle um seine Kräuter
und anderes Gerät zu holen. Seinen Bogen übergibt
er dabei Neoptolemos (667ff): In diesem Ausdruck seines grenzenlosen
Vertrauens triumphiert die Intrige.
- 1. Stasimon (676-729): Der Chor beklagt allein zurückgeblieben
noch einmal das jetzt mit eigenen Augen geschaute Leid des Philoktet
und zeigt tiefes Mitgefühl. Doch auch jetzt steht sein Mitgefühl
und die ausgesprochene Hoffnung, Neoptolemos werde ihn nach Griechenland
zurückbringen, noch nicht im Widerspruch zur Intrige, sondern
setzt sie fort.
- 1. Strophe (676-705): Vergleich mit Ixion: Allein er trägt
schlimmeres Leid als Philoktetes. Ausmalung seiner Isolation trotz
leidvoller Schmerzen und der Mühsamkeit, sich Nahrung zu
verschaffen.
- 2. Strophe (706-729): Die Dürftigkeit seiner Nahrung. Doch
nun wird ein Sohn aus edlem Hauses seinem Leid ein Ende
setzen und ihn nach Griechenland zurückbringen!
- 2. Epeisodion (730-826): Neoptolemos und Philoktetes treten
bereit zur Abfahrt aus der Höhle, da erleidet Philoktetes nacheinander
drei Anfälle:
- 1. Anfall (730-781): Philoktet gibt Neoptolemios seinen Bogen,
um ihn vor Odysseus und Diomedes zu sichern.
- 2. Anfall (782-813): Philoktet bittet um seinen Tod.
- 3. Anfall (814-826): Philoktet möchte in seine Höhle
zurückgebracht werden.
- 1. Kommos (827-864):
- Strophe: Gebet an den Schlaf, Philoktetes zu befallen und Aufforderung
an Neoptolemos, den Kairos zu nutzen und ohne ihn, mit seinem
Bogen abzufahren. Doch ohne den Mann zu fahren lehnt Neoptolemos
als Halbheit und dem Orakel ungemäß ab.
- Gegenstrophe und Epode: Der Chor dringt noch einmal in Neoptolemos,
die Gelegenheit zu nutzen.
- 3. Epeisodion (865-1080):
- 865-973: Als Philoktet erwacht und zur Eile drängt. bringt
es Neoptolemos nicht weiter über sich zu lügen. Er erklärt
Philoktetes die ganze Wahrheit. Der stürzt in ein Wechselbad
der Gefühle. Als Neoptolemos ihm aus Mitleid den Bogen zurückgeben
will, tritt Odysseus aus einem Versteck hervor.
- 974-1080: Odysseus hindert Neoptolemos, den Bogen zurückzugeben.
Weil Philoktet selbst mitkommen müsse, lässt er ihn
von Dienern, als er sich vom Felsen stürzen will, packen,
gibt ihn aber listig wieder frei und gibt, indem er mit Neoptolemos
zum Strand weggeht, vor, ohne ihn fahren zu wollen.
- 2. Kommos (1081-1217): Phikoltet im Wechsel mit dem Chor.
- 1169-1217: Philoktet beschuldigt Odysseus, der ihm seinen Bogen
genommen hat und ihn nun verhöhne; doch der Chor entlastet
Odysseus, der nur zum Wohl der Griechen so handele. Philoktet
müsse nicht um sein Überleben fürchten, wenn er
mit nach Troia komme.
- 1186-1195: Philoktet schickt den Chor empört weg, um ihn,
als ihn Schmerzen überfallen, gleich zu bitten, doch noch
zu bleiben.
- 1196-1212: Niemals werde er er mit nach Troia kommen. Man solle
ihm eine Waffe geben, damit er seinem Leben ein Ende setzen könne.
Es packt ihn Verlangen nach seinem Vater.
- 1213-1217: Nach einer letzten Klage geht er in seine Höhle.
- Exodos (1218-1471): Auseinandersetzung des Neoptolemos mit
Odysseus (Stichomythie).
- 1218-1262: Neoptolemos kehrt um, um Philoktet den Bogen zurückzugeben.
Odysseus will ihn mit Drohungen und schließlich mit dem
Schwert daran hindern. Doch als Philoktet auch die Waffe zieht,
weicht Odysseus zurück, angeblich, um dem Heer Bericht zu
erstatten.
- 1263-1407: Philoktet ist über Neoptolemos' Rückkehr
entsetzt und will seinen Fluch gegen alle Griechen richten. Da
gibt ihm Neoptolemos seinen Bogen zurück. Als Odysseus erscheint,
um es zu verhindern, richtet Philoktet seinen Pfeil gegen ihn.
Doch Neoptolemos fällt ihm in den Arm und Odysseus entfernt
sich. Neoptolemos versucht nun, Philoktet zu überreden, freiweillig
mit nach Troia zu kommen:
- dort werde er geheilt werden,
- Troia könne ohne ihn nicht erobert werden,
- er werde sich unsterblichen Ruhm dort erwerben.
Doch alle Argumente sind umsonst. Philoktetes verweigert
sich und will zurück nach Griechenland. Neoptolemos erklärt
sich auch dazu bereit. Da tritt Herakles als "deus ex machina"
auf:
- 1408-1451: Herakles verkündet Philoktetes, dass es
Zeus' Wille sei, dass er mit Neoptolemos nach Troia fahre. Der
Ruhm vor Troia werde ihn vür seine Leiden entschädigen.
Philoktetes erklärt sich einverstanden
- 1452-1470: Er nimmt Abschied von seiner Höhle und
entfernt sich mit Neoptolemos und dem Chor zum Schiff.
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