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(1) Ausgezeichneter Männer
Tun und Wesen der Nachwelt zu überliefern, was von alters her
Brauch war, hat selbst in unserer Zeit das Menschengeschlecht, obwohl
es gegen seine eigenen Angehörigen gleichgültig ist, nicht
unterlassen, sooft sich ein großes und augenfälliges
Verdienst durchsetzen und sich über das gemeinsame Gebrechen
kleiner wie großer Staaten emporschwingen konnte, die Unkenntnis
des Rechten und die Missgunst. (2) Aber wie bei den Früheren
leicht war, denkwürdige Taten zu vollbringen, und
dafür ein offenes Feld war, so ließ sich auch der am
reichsten Begabte fern von Parteilichkeit oder Gunstsucht einzig
durch den Lohn des guten Bewusstseins leiten, dem Verdienst ein
Denkmal zu setzen. (3) Ja, gar viele sahen in der Darstellung ihres
eigenen Lebens viel mehr Zutrauen auf ihre Handlungsweise als Selbstüberhebung;
auch tat dies bei Rutilius und Scaurus ihrer Glaubwürdigkeit oder Anerkennung keinen Abbruch. So wahr
ist es, dass das Verdienst immer gerade in denjenigen Zeiten am
besten gewürdigt wird, in denen es am leichtesten aufkeimt.
(4) Ich dagegen, der ich jetzt im Begriff bin, das Leben eines verstorbenen
Mannes zu beschreiben, bedurfte einer Entschuldigung, um die ich
nicht nachgesucht hätte, wenn ich hätte anklagen wollen:
so feindselig und dem Verdienst abträglich sind die Zeiten.
(1,1)
Clarorum virorum facta moresque posteris tradere, antiquitus usitatum,
ne nostris quidem temporibus quamquam incuriosa suorum aetas omisit,
quotiens magna aliqua ac nobilis virtus vicit ac supergressa est vitium parvis magnisque civitatibus commune, ignorantiam recti et invidiam.
(1,2) sed apud priores
ut agere digna memoratu pronum magisque in aperto erat, ita celeberrimus
quisque ingenio ad prodendam virtutis memoriam sine gratia aut ambitione
bonae tantum conscientiae pretio ducebatur. (1,3)
ac plerique suam ipsi vitam narrare fiduciam potius morum quam adrogantiam
arbitrati sunt, nec id Rutilio et Scauro citra fidem aut obtrectationi
fuit: adeo virtutes isdem temporibus optime aestimantur, quibus
facillime gignuntur. (1,4)
at nunc narraturo mihi vitam defuncti hominis venia opus fuit, quam
non petissem incusaturus: tam saeva et infesta virtutibus tempora.
(1) Wir haben gelesen,
dass des Arulenus
Rusticus Lobschrift auf Paetus
Thrasea und des Herennius
Senecio auf Priscus
Helvidius beiden den Tod gebracht habe, und dass man nicht nur
gegen die Person der Verfasser, sondern auch gegen ihre Schriften
streng eingeschritten sei, indem man den Triumvirn den Auftrag erteilte,
die Denkmäler jener ruhmreichen Geister auf dem Forum und Comitium
zu verbrennen. (2) Bildete man sich doch ein, mit jenem Feuer
die Stimme des römischen Volkes, die Unabhängigkeit des
Senats, das Gewissen des Menschengeschlechts zu vertilgen, nachdem
man überdies die Lehrer der Weisheit ausgestoßen und
alles edle Tun in die Verbannung getrieben hatte, damit ja nichts
Besseres mehr in den Weg käme. (3) Wahrlich, wir haben eine
gewaltige Probe von Geduld abgelegt; und wie die alte Zeit die äußerste
Grenze der Freiheit erlebt hat, so wir die der Knechtschaft, da
wir infolge der Bespitzelung nicht einmal durch Sprechen und
Hören miteinander verkehren konnten. (4) Selbst das Gedächtnis
hätten wir mitsamt der Sprache verloren, wenn das Vergessen
ebenso in unserer Gewalt stände wie das Schweigen.
(2,1)
Legimus, cum Aruleno Rustico Paetus Thrasea, Herennio Senecioni
Priscus Helvidius laudati essent, capitale fuisse, neque in ipsos
modo auctores, sed in libros quoque eorum saevitum, delegato triumviris
ministerio ut monumenta clarissimorum ingeniorum in comitio ac foro
urerentur. (2,2) scilicet
illo igne vocem populi Romani et libertatem senatus et conscientiam
generis humani aboleri arbitrabantur, expulsis insuper sapientiae
professoribus atque omni bona arte in exilium acta, ne quid usquam
honestum occurreret. (2,3)
dedimus profecto grande patientiae documentum; et sicut vetus aetas
vidit, quid ultimum in libertate esset, ita nos, quid in servitute,
adempto per inquisitiones etiam loquendi audiendique commercio.
(2,4) memoriam quoque
ipsam cum voce perdidissemus, si tam in nostra potestate esset oblivisci
quam tacere.
(1) Jetzt erst kehrt das
Leben wieder; und obwohl schon beim ersten Beginn dieser hochbeglückten
Periode Nerva Caesar zwei sonst unverträgliche Dinge vereinigt
hat, Einzelherrschaft und Freiheit, und täglich noch Nerva
Traianus den reichen Segen unserer Zeit erhöht, und die öffentliche
Sicherheit nicht mehr bloß Hoffnung und Wunsch geblieben ist,
sondern die starke Zuversicht auf Erfüllung dieses Wunsches
gewonnen hat: so wirken doch nach dem Wesen der menschlichen Schwachheit
die Heilmittel langsamer als die Übel; und wie unser Körper
langsam erstarkt, schnell hinstirbt, so lassen sich auch Talent
und wissenschaftliche Tätigkeit leichter erdrücken als
wieder beleben. Schleicht sich ja allmählich auch die Süßigkeit
des Nichtstuns in uns ein, und der anfangs verhasste Müßiggang
wird zuletzt liebgewonnen. (2) Wie vollends, wenn in den fünfzehn
Jahren - ein mächtiger Zeitraum für das Menschenleben
- viele durch zufälliges Missgeschick, gerade die Entschlossensten
aber durch die Blutrünstigkeit des Herrschers umgekommen sind?
Nur wenige haben wir sozusagen nicht nur andere, sondern auch uns
selbst überlebt, da uns mitten aus dem Leben so viele Jahre
entrissen wurden, in denen wir still und stumm, soweit wir jung
waren, ins Greisenalter gelangt sind, soweit wir Greise waren,
fast unmittelbar an die Grenzen des abgelaufenen Lebens. (3) Dennoch
soll es mich nicht verdrießen, wenn auch in ungewandter und
kunstloser Sprache, ein Denkmal der früheren Knechtschaft und
ein Zeugnis des jetzigen Glücks abzufassen. Einstweilen mag
diese, der Ehre meines Schwiegervaters Agricola gewidmete Schrift
als Kundgebung liebevoller Anhänglichkeit entweder Anerkennung
finden oder Entschuldigung.
(3,1)
Nunc demum redit animus; et quamquam primo statim beatissimi saeculi
ortu Nerva Caesar res olim dissociabilis miscuerit, principatum
ac libertatem, augeatque cotidie felicitatem temporum Nerva Traianus,
nec spem modo ac votum securitas publica, sed ipsius voti fiduciam
ac robur adsumpserit, natura tamen infirmitatis humanae tardiora
sunt remedia quam mala; et ut corpora nostra lente augescunt, cito
extinguuntur, sic ingenia studiaque oppresseris facilius quam revocaveris:
subit quippe etiam ipsius inertiae dulcedo, et invisa primo desidia
postremo amatur. (3,2)
quid, si per quindecim annos, grande mortalis aevi spatium, multi
fortuitis casibus, promptissimus quisque saevitia principis interciderunt, pauci et, ut ita dixerim,
non modo aliorum sed etiam nostri superstites sumus, exemptis e
media vita tot annis, quibus iuvenes ad senectutem, senes prope
ad ipsos exactae aetatis terminos per silentium venimus? (3,3)
non tamen pigebit vel incondita ac rudi voce memoriam prioris servitutis
ac testimonium praesentium bonorum composuisse. hic interim liber
honori Agricolae soceri mei destinatus, professione pietatis aut
laudatus erit aut excusatus.
Welche Bedeutung für die taciteische Interpretation
der römischen Geschichte spielen im Prooemium des Agricola
die Begriffe servitus und libertas?
libertas ist das Thema von Cap. 1: Die libertas
der Vorfahren, war es, die Leistung (virtus) freisetzte.
Sie ging nach und nach verloren und mit ihr die Bereitschaft
Leistung zu erbringen und anzuerkennen.
servitus ist das Themawort von Cap. 2: Der Prinzipat
muss sich seinem Wesen nach durch die libertas bedroht
fühlen und muss deswegen gegen sie vorgehen.
Prinziat und libertas sind unvereinbare Gegensätze:
"sicut vetus aetas vidit, quid ultimum in
libertate esset, ita nos, quid in servitute"
In Cap. 3 sieht Tacitus die Möglichkeit einer
ausgleichenden Synthese zwischen libertas und principatus
durch Nerva und Traian eingeleitet: "Nerva
Caesar res olim dissociabilis miscuerit, principatum
ac libertatem". Die Gefahr liegt seitens der libertas in der Verführung
der inertia; seitens des Princeps in der Verführung der Macht.
In welchen Erscheinungsformen des öffentlichen Lebens
drückt sich die servitus aus?
die unterdrückte Stimme des Volkes (vox populi
Romani)
die verlorene Freiheit des Senates (libertas senatus)
die Bewusstseinslage der Menschen (conscientia generis
humani)
Welche Auswirkungen hat die Veränderung der innenpolitischen
Verhältnisse auf den Stellenwert der biographischen Geschichtsschreibung?
In der virtusfreundlichen Zeit der Republik war
es nicht nur selbstverständlich die Leistungen
anderer als exempla virtutis hervorzuheben,
sondern sogar die Autobiographie erweckte keinen Anstoß.
In der virtusfeindlichen Zeit des Domitian sind
rühmende Biographien todeswürdige Verbrechen
Die Zeitenwende unter Nerva und Traian ermöglicht
nicht nur wieder die Abfassung einer Biographie, sondern
auch von eigentlichen Geschichtswerken.
Kann sich Tacitus Wirkungen seiner Biographie auf das Staatsbürgerliche
Bewusstsein seiner Leser versprechen?
Er beabsichtigt, eine "memoria virtutis"
zu errichten.
Ermutigung: Am Beispiel des Agricola wird deutlich,
wie auf grund einer persönlichen Haltung auch
in einer virtusfeindlichen Zeit virtus verwirklicht
werden kann.
Appell, die Chancen der neuen Zeit zu ergreifen,
und nicht der Verführung zum Nichtstun zu verfallen.
Wie fügt sich der Agricola in den Plan des historischen
Lebenswerkes des Tacitus ein?
Agricola: Die Zeit der Flavier und des Nerva und
Traianus als Darstellung der überstandenen
Knechtschaft und des gegenwärtigen Glücks.
Historien: Nerva und Traianus werden für ein
Alterswerk aufgespart.
Annales: Die Geschichte der julisch-claudischen
Dynastie. Keine Erwähnung der "praesentia
bona" mehr.
Ein unausgeführtes drittes annalistisches Werk
wollte allein den Prinzipat des Augustus darstellen.
Somit drängt Tacitus den auf die Gegenwart
bezognen Teil seines ursprünglichen Planes immer
mehr zu Gunsten einer Geschichte der servitus zurück,
um die verlorene virtus nachträglich in ihr Recht
zu setzen..
Welches Verständnis von Geschichtsschreibung zeigt
sich im Agricola und im taciteischen Gesamtwerk?
Das Geschichtswerk ist nach altrömischer Weise
gewissermaßen als der Raum aufgefasst, in dem
gute und böse Vorbilder (bona et mala exempla)
zum Gebrauch der Nachwelt aufbewahrt werden. Der Geschichtsschreiber
hat also hauptsächlich auf virtus und ihr Gegenteil
zu achten und dafür zu sorgen, dass Leistung
als Leistung und Minderwertigkeit als Minderwertigkeit
erkannt werden (nach Klingner)
Tac.hist.1,2: Auf Größe stnad unfehlbar
der Tod
Tac.ann.3,65: Die vorzüglichste Aufgabe
der Geschichtsschreibung ist es, die Tugend nicht
in Vergessenheit geraten zu lassen
P.Cornelius Tacitus, Werke. I: Die Kleineren Schriften (Agricola, Germania, Dialogus), nebst allgemeiner Einleitung auf Grundlage der H.Gutmann's Ãœbersetzung neu bearbeitet v. W.S.Teuffel
Auswahl aus den Schriften des P. Cornelius Tacitus. Mit Einleitung und Namensverzeichnis herausgegeben von Dr. Friedrich Wotke. Text und Kommentar.
9. Auflage von Dr. H. Malicsek