Cicero: Gespräche in Tusculum
Cic.Tusc.3,32-38
Epikurs Linderungsmittel gegen den Kummer und ihre Kritik
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Cicero: Tusculanae Disputationes
Cic.Tusc.3,32-38
levatio aegritudinis |
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Cicero: Gespräche in Tusculum
Cic.Tusc.3,32-38
Linderung des Kummers |
32,1 | Sed est, isdem de rebus quod dici possit subtilius, si prius Epicuri sententiam viderimus. | Doch über denselben Gegenstand ist ein schärferes Urteil möglich, wenn wir zuvor Epikurs Ansicht betrachtet haben. |
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32,2 | Qui censet necesse esse omnis in aegritudine esse, qui se in malis esse arbitrentur, sive illa ante provisa et expectata sint sive inveteraverint. | Dieser meint, Kummer sei für alle diejenigen unvermeidlich, die glauben, im Unglück zu sein; mag es vorhergesehen und erwartet oder eingewurzelt sein. |
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32,3 | Nam neque vetustate minui mala nec fieri praemeditata leviora, stultamque etiam esse meditationem futuri mali aut fortasse ne futuri quidem: satis esse odiosum malum omne, cum venisset; | Denn weder würden Übel durch ihr Alter vermindert, noch durch Vorüberlegungen leichter; ja, der Gedanke an ein künftiges, vielleicht nicht einmal künftiges Übel sei sogar töricht. Jedes Übel sei widerwärtig genug, wenn es gekommen sei; |
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32,4 | qui autem semper cogitavisset accidere posse aliquid adversi, ei fieri illud sempiternum malum; si vero ne futurum quidem sit, frustra suscipi miseriam voluntariam; ita semper angi aut accipiendo aut cogitando malo. | wer aber immer denke, es könne ihm etwas Schlimmes passieren, dem werde dies zu einem Dauerübel. Trete es aber nicht einmal ein, so lade man sich umsonst freiwilliges Elend auf; so sei man stets in Angst, entweder dadurch dass man Übel erträgt oder daran denkt. |
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33,1 | Levationem autem aegritudinis in duabus rebus ponit, avocatione a cogitanda molestia et revocatione ad contemplandas voluptates. | Erleichterung des Kummers, setzt er aber in zwei Methoden: in das Ablenken der Seele von dem Gedanken an Beschwerde und ins Hinlenken zur Betrachtung des Vergnügens. |
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33,2 | Parere enim censet animum rationi posse et, quo illa ducat, sequi. | Denn er meint, das Gemüt könne der Vernunft gehorchen, und folgen, wohin sie führt. |
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33,3 | Vetat igitur ratio intueri molestias, abstrahit ab acerbis cogitationibus, hebetem aciem ad miserias contemplandas facit; | Die Vernunft verbietet also, die Beschwerden anzuschauen; sie zieht von bitteren Gedanken ab; sie macht die Sehkraft für das Betrachten des Elends stumpf; |
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33,4 | a quibus cum cecinit receptui, inpellit rursum et incitat ad conspiciendas totaque mente contrectandas varias voluptates, quibus ille et praeteritarum memoria et spe consequentium sapientis vitam refertam putat. | hat sie den Rückzug davon angetreten, erregt und ermuntert sie das Gemüt wieder die vielfältigen Vergnügungen zu betrachten und mit voller Inbrunst zu ergreifen, von denen Epikur das Leben des Weisen erfüllt glaubt, teils in Erinnerung an vergangene, teils in Hoffnung auf künftige. – |
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33,5 | Haec nostro more nos diximus, Epicurii dicunt suo; sed quae dicant, videamus, quo modo, neglegamus. | Dies haben wir nach unserer Art gesagt; die Epikureer sagen es nach ihrer; aber nur was sie sagen, haben wir zu betrachten; wie sie es sagen, kann uns gleichgültig sein. |
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34,1 | Principio male reprehendunt praemeditationem rerum futurarum. | Fürs erste tadeln sie zu Unrecht, das Vorausbedenken künftiger Dinge. |
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34,2 | Nihil est enim, quod tam optundat elevetque aegritudinem quam perpetua in omni vita cogitatio nihil esse quod non accidere possit, quam meditatio condicionis humanae, quam vitae lex commentatioque parendi, quae non hoc adfert, ut semper maereamus, sed ut numquam. | Denn nichts hemmt und erleichter den Kummer so sehr, als im ganzen Leben fortdauernd der Gedanke, es gebe nichts, was nicht passieren könne; als das Bedenken des menschlichen Geschicks; als die Einübung in die Notwendigkeit, dem Gesetz des Lebens zu gehorchen, was nicht zur Folge hat, dass wir immer, sondern dass wir niemals traurig sind. |
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34,3 | Neque enim, qui rerum naturam, qui vitae varietatem, qui inbecillitatem generis humani cogitat, maeret, cum haec cogitat, sed tum vel maxime sapientiae fungitur munere; | Denn wer den Gang der Natur, wer den Wechsel im Leben, wer die Schwäche des Menschengeschlechts bedenkt, ist nicht traurig, wenn er dies bedenkt; sondern setzt damit ganz vorzüglich seine Weisheit ein. |
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34,4 | utrumque enim consequitur, ut et considerandis rebus humanis proprio philosophiae fruatur officio et adversis casibus triplici consolatione sanetur, primum quod posse accidere diu cogitavit, quae cogitatio una maxime molestias omnis extenuat et diluit, deinde quod humana humane ferenda intellegit, postremo quod videt malum nullum esse nisi culpam, culpam autem nullam esse, cum id, quod ab homine non potuerit praestari, evenerit. | Denn beides erreicht er, einmal genügt er dadurch, dass er das Menschliche in den Blick fasst, der eigentümlichen Pflicht der Philosophie; dann sieht er sich im Missgeschick durch dreifachen Trost geheilt: erstens dadurch, dass er länger bedacht hat, es könne passieren; ein Gedanke, der ganz besonders alle Beschwerden mindert und auflöst, zweitens dass er die Notwendigkeit erkennt, das Menschliche als Mensch zu ertragen; endlich dass er einsieht, es gebe kein Übel außer der Schuld; Schuld aber gebe es nur, wenn das eintrete, wofür der Mensch einstehen könne. |
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35,1 | Nam revocatio illa, quam adfert, cum a contuendis nos malis avocat, nulla est. | Denn jenes Ablenken, das Epikur vorbringt, wenn er uns von der Anschauung der Übel wegruft, gibt es nicht. |
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35,2 | Non est enim in nostra potestate fodicantibus eis rebus, quas malas esse opinemur, dissimulatio vel oblivio: lacerant, vexant, stimulos admovent, ignis adhibent, respirare non sinunt. | Denn es liegt nicht in unserer Gewalt, wenn uns die Dinge, die wir für Übel halten, verwunden, dies zu verdrängen oder zu vergessen. Sie zerfleischen, quälen, stechen, brennen, lassen uns nicht zu Atem kommen. |
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35,3 | Et tu oblivisci iubes, quod contra naturam est, qui, a natura datum est, auxilium extorqueas inveterati doloris? | Und du gebietest, sie zu vergessen! – Das ist gegen die Natur. – Du, der du uns die von der Natur dargebotene Hilfe gegen den eingewurzelten Schmerz mit Gewalt entwindest? |
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35,4 | Est enim tarda illa quidem medicina, sed tamen magna, quam adfert longinquitas et dies. | Denn es ist eine zwar langsame, aber doch eine wirksame Arznei, die Länge und Zeit darreichen. |
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35,5 | Iubes me bona cogitare, oblivisci malorum. | Du gebietest mir, an die Güter zu denken, die Übel zu vergessen. |
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35,6 | Diceres aliquid, et magno quidem philosopho dignum, si ea bona esse sentires, quae essent homine dignissima. | Du würdest etwas sagen, etwas, was eines großen Philosophen würdig ist, wenn du die Güter meintest, die des Menschen am würdigsten sind. |
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36,1 | Pythagoras mihi si diceret aut Socrates aut Plato: 'Quid iaces aut quid maeres aut cur succumbis cedisque fortunae? quae pervellere te forsitan potuerit et pungere, non potuit certe vires frangere. | Ja, wenn Pythagoras zu mir spräche oder Sokrates oder Platon: "Warum liegst du darnieder oder was jammerst du oder warum unterwirfst du dich und weichst dem Geschick? Es hätte dich vielleicht durchrütteln und stechen, doch nicht dir die Kräfte brechen können. |
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36,2 | Magna vis est in virtutibus; eas excita, si forte dormiunt. | Große Kraft liegt in den Tugenden: Sie wecke auf, wenn sie etwa schlummern! |
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36,3 | Iam tibi aderit princeps fortitudo, quae te animo tanto esse coget, ut omnia, quae possint homini evenire, contemnas et pro nihilo putes. | Bald wird sich bei dir vor allen die Tapferkeit einstellen; sie nötigt dich, so mutig zu sein, dass du alles, was den Menschen treffen kann, verachtest und für nichts hältst. |
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36,4 | Aderit temperantia, quae est eadem moderatio, a me quidem paulo ante appellata frugalitas, quae te turpiter et nequiter facere nihil patietur. | Einstellen wir sich die Selbstbeherrschung, die Mäßigung, die ich kurz zuvor Frugalität genannt habe; sie wird dich nichts Schändliches und Nichtswürdiges tun lassen. |
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36,5 | Quid est autem nequius aut turpius ecfeminato viro? | Was ist aber nichtswürdiger oder schmählicher als ein weibischer Mann? |
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36,6 | Ne iustitia quidem sinet te ista facere, cui minimum esse videtur in hac causa loci; quae tamen ita dicet dupliciter esse te iniustum, cum et alienum adpetas, qui mortalis natus condicionem postules inmortalium et graviter feras te, quod utendum acceperis, reddidisse. | Auch die Gerechtigkeit wird dich dies nicht tun lassen; sie, die am wenigsten in dieser Sache am Platz scheint; dennoch wird sie so sprechen: zweifach bist du ungerecht, da du Fremdes begehrst, indem du als Sterblicher forderst, was nur den Unsterblichen zukommt; und weil du dich sträubst zurückzugeben, was du nur zur Nutznießung empfangen hast. |
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37,1 | Prudentiae vero quid respondebis docenti virtutem sese esse contentam, quo modo ad bene vivendum, sic etiam ad beate? | Und was willst Du der Klugheit antworten, wenn sie dich lehrt, die Tugend genüge sich selbst, wie zum rechtschaffenen, so auch zum seligen Leben? |
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37,2 | Quae si extrinsecus religata pendeat et non et oriatur a se et rursus ad se revertatur et omnia sua complexa nihil quaerat aliunde, non intellego, cur aut verbis tam vehementer ornanda aut re tantopere expetenda videatur'. | Ja, wäre sie ans Äußere gebunden und hinge davon ab, entspränge sie nicht aus sich selbst und kehrte nicht wieder zu sich zurück und umfasste nicht schlechthin nur das Ihre und suchte etwas anderswoher zu gewinnen, so sähe ich nicht ein, warum man glaubt, sie müsse in Worten so sehr erhoben, in der Tat so angelegentlich erstrebt werden." - |
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37,3 | Ad haec bona me si revocas, Epicure, pareo, sequor, utor te ipso duce, obliviscor etiam malorum, ut iubes, eoque facilius, quod ea ne in malis quidem ponenda censeo. | Wenn du mich zu diesen Gütern zurückrufst, Epikur, gehorche und folge ich; du selbst seiest mein Führer; ich vergesse auch die Übel, wie du gebietest, und desto leichter, weil sie meines Erachtens nicht einmal unter die Übel zu zählen sind. |
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37,4 | Sed traducis cogitationes meas ad voluptates. Quas? Corporis, credo, aut quae propter corpus vel recordatione vel spe cogitentur. | Aber du lenkst meine Gedanken zu den Vergnügungen. Welchen? Den körperlichen wohl, oder denen, an die man wegen des Körpers, sei’s aus der Erinnerung, sei’s in der Hoffnung, denkt. |
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37,5 | Num quid est aliud? rectene interpretor sententiam tuam? Solent enim isti negare nos intellegere, quid dicat Epicurus. | Ist’s etwas anders? Deute ich deine Ansicht richtig? Denn Epikurs Anhänger pflegen zu behaupten, wir verstünden nicht, was er sagt! |
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38,1 | Hoc dicit, et hoc ille acriculus me audiente Athenis senex Zeno, istorum acutissimus, contendere et magna voce dicere solebat: eum esse beatum, qui praesentibus voluptatibus frueretur confideretque se fruiturum aut in omni aut in magna parte vitae dolore non interveniente, aut si interveniret, si summus foret, futurum brevem, sin productior, plus habiturum iucundi quam mali; | Das meint er, und das pflegte jenes reizbare Männchen, der alte Zenon, den ich in Athen hörte, der scharfsinnigste in jener Schule, zu behaupten und laut auszusprechen: der sei glücklich, der die gegenwärtigen Vergnügungen genieße und darauf vertraue, sie entweder im ganzen oder doch in einem großen Teil seines Lebens zu genießen, ohne störenden Schmerz; komme aber einer dazwischen, so werde er auf seiner höchsten Stufe kurz sein; dauere er aber länger, so werde er mehr Annehmlichkeit als Übel haben. |
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38,2 | haec cogitantem fore beatum, praesertim cum et ante perceptis bonis contentus esset nec mortem nec deos extimesceret. | Diese Gedanken machten den Menschen glücklich; besonders wenn er mit den zuvor genossenen Gütern zufrieden sei, und weder Tod noch Götter fürchte. – |
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38,3 | Habes formam Epicuri vitae beatae verbis Zenonis expressam, nihil ut possit negari. | Hier hast du einen Umriss von Epikurs seligem Leben, mit Zenons Worten gezeichnet, so dass sich nichts davon abstreiten lässt. |
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Aufgabenvorschläge:
- Warum trifft nach Epikurs Auffassung die Menschen Kummer?
- Wie wirkt sich dabei das Alter des Übels aus?
- Inwiefern sind Vorüberlegungen hilfreich?
- Welche Möglichkeiten, den Kummer zu lindern oder zu beseitigen, soll Epikur empfohlen werden?
- Ist die "avocatio a cogitanda molestia" (33,1) mit unseren Begriff der "Verdrängung" vergleichbar?
- Welche Bedeutung kommt. Der Rationalität für die Überwindung des Kummers zu?
- Welche Kritik übt Cicero an Epikurs Thesen?
- Welcher philosophischen Schule ist Ciceros Kritik verpflichtet?
- Welche Folgerung für das menschliche Verhalten ergibt sich nach Cicero aus dem Satz "nihil est, quod non accidere possit" (34,2)?
- Was ist unter "meditatio condicionis humanae" (34,2) zu verstehen?
- Welcher Trost kann nach Cicero aus der "praemeditatio rerum futurarum" erwachsen?
- Wieso soll die "revocatio" gegen die Natur sein (35,3)?
- Zu dem Abschnitt, den Cicero den Philosophen Pythagoras, Platon, Sokrates in den Mund legt
- In welchen Punkten ist er ein Gegenentwurf zu Epikurs Lehre?
- WelcheWirkung erzielt Cicero dadurch, dass er diesen Redeabschnitt berühmten Leuten und den einzelnen Tugenden in den Mund legt?
- Können Sie eine Prosopopoiie und / oder eine Personifikation entdecken?
- Welcher der hier angesprochenen philosophischen Richtungen würden Sie das Attribut "Positives Denken" zuerkennen?
- Wird Cicero mit den Eckpunkten, die er nach dem Epikureer Zenon referiert, Epikurs Philosophie gerecht?
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