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W.Heisenberg: Das Naturgesetz und die Struktur der Materie

in: Schritte über Grenzen, München (Piper) 1973, S. 223-242 (Rede, gehalten auf dem Pnyx-Hügel gegenüber der Akropolis in Athen am 3.Juni 1964)

Einleitung: Fragestellung und Zielsetzung der Rede:

  1. Fragen, die seit den Griechen immer wieder neu gestellt und in unserer Zeit durch die Entwicklung der Atomphysik klar und endgültig beantwortet wurden:
    • die Frage nach der Struktur der Materie,
    • die Frage nach dem Begriff des Naturgesetzes.
  2. Zielsetzung:
    • Überprüfen der Philosophie des Materialismus (die in der Form des Dialektischen Materialismus für die Gegenwart große Bedeutung gewonnen hat) an den jüngsten Ergebnissen der Naturwissenschaft.
    • Vergleich der antiken Diskussion mit den Ergebnissen der experimentellen Naturwissenschaft und der modernen Atomphysik. "Vielleicht sollte ich das Ergebnis eines solchen Vergleichs schon hier vorwegnehmen. Es scheint, dass in der Frage nach der Struktur der Materie Plato der Wahrheit sehr viel näher gekommen ist als Leukipp oder Demokrit, trotz des enormen Erfolges, den der Atombegriff in der modernen Naturwissenschaft errungen hat."

Die wichtigsten Argumente der Griechen zu Materie, Leben, Sein und Werden:

  1. Der Begriff der Materie in der antiken Philosophie [225]: 

    "Jede Bemühung, die veränderliche Vielfalt der Erscheinungen zu verstehen, [muss] zu einem Suchen nach einem zugrunde liegenden Prinzip werden" [225]:

    1. Vielheit - Einheit; Erscheinung - Wesen. Streben nach Vereinfachung (Reduktionismus) führt zur Suche nach einem ontologischen Urgrund (Prinzip): "Am Anfang der griechischen Philosophie steht das Dilemma des »Einen« und des »Vielen«. Wir wissen: Es gibt eine stets sich wandelnde Vielfalt von Erscheinungen vor unseren Sinnen, aber wir glauben doch, dass es letzten Endes möglich sein müsse, sie irgendwie auf ein einheitliches Prinzip zurückzuführen." [225]
    2. Regelmäßigkeiten in den Erscheinungen: Kausalität als Prinzip der Erklärung (Theoriebildung): "Wir versuchen ja, die Erscheinungen zu verstehen, und indem wir dies tun, erkennen wir, dass alles Verständnis damit beginnt, Ähnlichkeiten und Regelmäßigkeiten in den Erscheinungen wahrzunehmen. Die Regelmäßigkeiten werden dann aufgefasst als spezielle Folgen von etwas, das den verschiedenen Erscheinungen gemeinsam ist und das deshalb ein zugrunde liegendes Prinzip genannt werden kann." [225]
    3. Der "materialistische Urgrund" als naheliegende Antwort. Die beiden Möglichkeiten, ihn zu denken: "Es ist ein charakteristischer Zug des Denkens im antiken Griechenland, dass die ersten Philosophen nach einer »materiellen Ursache« aller Dinge suchten. Das erscheint zunächst als ein sehr natürlicher Ausgangspunkt für eine Welt, die ja aus Materie besteht. Aber von hier gerät man doch auch sogleich in ein Dilemma, nämlich zu der Frage, ob diese materielle Ursache alles Geschehens mit einer der existierenden Formen der Materie, wie »Wasser« in der Philosophie des Thales oder »Feuer« in der Lehre Heraklits, identifiziert werden sollte oder ob eine Grundsubstanz angenommen werden sollte, von der die wirkliche Materie nur die vergänglichen Formen darbietet. Diese beiden Möglichkeiten sind in der antiken Philosophie ausgearbeitet worden,..." [225]
    4. Wie kann die Einfachheit im Verhalten der Grundsubstanz formuliert werden? Der Atomismus beruht auf der Hypothese, dass die "kleinsten Teilchen" eines Urstoffes in all seinen Erscheinungsformen identisch sein und in ihrem Verhalten einfachen Gesetzen unterliegen könnten.
    5. Grundannahmen des Atomismus:
      1. "Das Atom [ist] ewig und unzerstörbar, es [ist] das eigentlich Existierende. Alle anderen Dinge existieren nur, weil sie aus Atomen zusammengesetzt sind." [226]
      2. Damit antworten Leukipp und Demokrit auf eine grundlegende Schwierigkeit im Zusammenhang mit dem Begriff des Unendlichen: "...wir können uns doch nur schwer vorstellen, dass diese Teilbarkeit immer weiter gehen sollte bis ins Unendliche. Es erscheint uns irgendwie natürlicher anzunehmen, dass es kleinste Teile gebe, die nicht weiter zerlegt werden können. Andererseits können wir uns auch nicht vorstellen, dass es prinzipiell unmöglich sein sollte, diese kleinsten Teile noch weiter zu teilen. Wir können uns wenigstens immer in Gedanken noch kleinere Teile vorstellen, dass wir in viel kleinerem Maßstab die gleichen Verhältnisse antreffen wie im gewöhnlichen Maßstab. Wir werden also offenbar von unserem eigenen Vorstellungsvermögen in die Irre geführt, wenn wir uns den Prozess des immer weiteren Teilens vergegenwärtigen wollen." [226]
      3. Zusammenhang mit Parmenides:
        • "Das Sein ist nicht nur Eines, es kann unendlich oft wiederholt werden. Das Sein ist unzerstörbar, daher ist auch das Atom unzerstörbar." [226f.]
        • Das Nicht-Sein existiert als leerer Raum: "Das Leere, der leere Raum zwischen den Atomen, ermöglicht Lage und Bewegung, ermöglicht Eigenschaften des Atoms,..." [227]
    6. Würdigung der Erklärungsleistung des Atomismus:
      1. Stärke des antiken Atomismus:
        • Der Atomismus gibt "eine unmittelbare Erklärung für die verschiedenen Aggregatzustände der Materie, wie Eis, Wasser und Wasserdampf, da die Atome dicht gepackt und geordnet beieinander liegen können oder ungeordnet und in unregelmäßiger Bewegung begriffen oder schließlich in ziemlich weiten relativen Abständen im Raum verteilt sein können." [227] "Die ganze Vielfalt der verschiedenen Erscheinungen, die vielen beobachteten Eigenschaften der Materie können auf die Lage und die Bewegung der Atome reduziert werden. Eigenschaften wir Geruch oder Farbe oder Geschmack gibt es bei den Atomen nicht. Lage und Bewegung der Atome können diese Eigenschaften indirekt hervorrufen. Lage und Bewegung scheinen viel einfachere Begriffe zu sein als die empirischen Qualitäten Geschmack oder Geruch oder Farbe." [227f.]
      2. Schwäche des antiken Atomismus:
        • Als "Baustein" der Materie wird das Atom "zu etwas ganz anderem, als der ursprüngliche Begriff »Sein« andeutete": es erhält räumliche Ausdehnung, und seine Unteilbarkeit wird dadurch fraglich. "Die Atome können sogar eine endliche Ausdehnung besitzen, und damit hat man schließlich das einzig überzeugende Argument für ihre Unteilbarkeit verloren. Wenn das Atom räumliche Eigenschaften hat, warum sollte es nicht geteilt werden können; zum mindesten wird seine Unteilbarkeit dann eine physikalische, keine fundamentale Eigenschaft. Man kann nun wieder Fragen über die Struktur des Atoms stellen, und man läuft Gefahr, all die Einfachheit zu verlieren, die man bei den kleinsten Teilen der Materie zu finden gehofft hatte. Man hat daher den Eindruck, dass die Atomhypothese in ihrer ursprünglichen Form noch nicht subtil genug ist, um das zu erklären, was die Philosophen wirklich verstehen wollten: das Einfache in den Erscheinungen und in der Struktur der Materie." [227]
      3. Der Versuch, ein Naturgesetz zur Erklärung des physikalischen Verhaltens der Materie zu formulieren, wird höchstens ansatzweise unternommen: "Es bleibt... die Frage, wodurch die Lage und die Bewegung der Atome bestimmt seien. Die griechischen Philosophen haben nicht versucht, an dieser Stelle ein Naturgesetz zu formulieren; der moderne Begriff des Naturgesetzes passte nicht in ihre Denkweise. Immerhin scheinen sie an irgendeine Art von ursächlicher Beschreibung, von Determinismus, gedacht zu haben, da sie über die Notwendigkeit, über Ursache und Wirkung sprachen." [228]
    7. Ansätze eines naturgesetzlichen Denkens sind statisch und scheitern am Fehlen des modernen Zeitbegriffs:
      "Die Atomphysik war mit der Absicht aufgestellt worden, den Weg vom »Vielen« zum »Einen« zu weisen, das zugrunde liegende Prinzip zu formulieren, die materielle Ursache, aufgrund deren alle Erscheinungen verstanden werden können. Die Atome konnten als die materielle Ursache angesehen werden; aber nur ein allgemeines Gesetz, das ihre Lage und Geschwindigkeit bestimmt, könnte tatsächlich die Rolle des grundlegenden Prinzips spielen." [228]
      "Wenn die griechischen Philosophen das Gesetzmäßige in der Natur erörterten, waren ihre Gedanken... auf statische Formen gerichtet, auf geometrische Symmetrien, nicht auf Vorgänge in Raum und Zeit. Die Kreisbahnen der Planeten, die regulären geometrischen Körper erschienen als die unvergänglichen Strukturen der Welt. Die neuzeitliche Idee, dass Lage und Geschwindigkeit des Atoms zu einer gegebenen Zeit mit ihrer Lage und Geschwindigkeit zu einer späteren Zeit durch ein mathematisches Gesetz eindeutig verknüpft sein könnten, passte nicht in die Gedankenrichtung jener Periode, da sie den Zeitbegriff in einer Weise verwendet, die sich erst aus dem Denken einer sehr viel späteren Epoche ergab." [228]
    8. Platons Verhältnis zum Atomismus: Platon dachte sich die Atome nicht materiell, sondern als geometrische Formen, als die regulären Körper der Mathematik. Sie sind in gewisser Weise die Ideen, die die Struktur der Materie bestimmen. Die Ideen sind fundamentaler als die Objekte. Die Materie kann nicht in Unendlichkeit weiter geteilt werden, weil sie sich am unteren Ende, das heißt im Gebiet kleinster Raumdimensionen, in den Begriff der mathematischen Form auflöst. Diese Form symbolisiert die Grundtendenzen im physikalischen Verhalten der Materie, während sich die feineren Einzelheiten jener Tendenzen aus der relativen Lage und Geschwindigkeiten dieser Einheiten ergeben. Es wird erstmals bewusst, dass nur die präzise, logisch geschlossene, formalisierte Sprache der Mathematik zu einem wahren und beweisfähigen Verständnis der Wirklichkeit führen kann.
      "Als Platon die von Leukipp und Demokrit aufgeworfenen Probleme selbst aufgriff, übernahm er die Vorstellung von den kleinsten Teilen der Materie; aber er widersprach aufs schärfste der Tendenz jener Philosophie, die Atome als die Grundlage alles Seienden, als die einzig wirklich existierenden materiellen Objekte zu nehmen. Platons Atome waren nicht eigentlich Materie, sie wurden als geometrische Formen gedacht, als die regulären Körper der Mathematiker. Diese Körper waren, im Einklang mit dem Ausgangspunkt seiner idealistischen Philosophie, in gewisser Weise die Ideen, die der Struktur der Materie zugrunde lagen und die das physikalische Verhalten der Elemente charakterisierten, zu denen sie gehörten. Der Würfel zum Beispiel war das kleinste Teilchen des Elements Erde und symbolisierte damit zugleich die Stabilität der Erde. Das Tetraeder mit seinen scharfen Spitzen stellte das kleinste Teilchen des Elements Feuer dar. Das Ikosaeder, das unter den regulären Körpern einer Kugel am nächsten kommt, repräsentiert die Beweglichkeit des Elements Wasser. In dieser Weise konnten die regulären Körper als Symbol für gewisse Tendenzen im physikalischen Verhalten der Materie gelten.
      Aber sie waren doch nicht eigentlich Atome, nicht unteilbare Grundeinheiten. im Sinne der materialistischen Philosophie. Platon betrachtete sie als zusammengesetzt aus den Dreiecken, die ihre Oberfläche bilden; und daher konnten diese kleinsten Teile durch den Austausch von Dreiecken ineinander umgewandelt werden. Zum Beispiel konnten zwei Atome Luft und ein Atom Feuer zu einem Atom Wasser zusammengesetzt werden. in dieser Weise konnte Platon dem Problem von der unendlichen Teilbarkeit der Materie entgehen. Denn die Dreiecke waren als zweidimensionale Flächen nicht Körper, nicht mehr Materie; daher konnte die Materie nicht in Unendlichkeit weiter geteilt werden. Der Begriff der Materie wird also am unteren Ende, das heißt im Gebiet kleinster Raumdimensionen, aufgelöst in den Begriff der mathematischen Form. Diese Form ist maßgebend für das Verhalten zunächst der kleinsten Teile der Materie und dann der Materie selbst. Sie ersetzt gewissermaßen das Naturgesetz der späteren Physik; denn sie charakterisiert, ohne ausdrücklich auf den zeitlichen Ablauf hinzuweisen, die Tendenzen im Verhalten der Materie. man kann vielleicht sagen, dass die Grundtendenzen durch die geometrische Gestalt der kleinsten Teile dargestellt wurden, während die feineren Einzelheiten jener Tendenzen in der relativen Lage und Geschwindigkeiten dieser Einheiten ihren Ausdruck fanden.
      Diese ganze Beschreibung passt genau zu den zentralen Vorstellungen der idealistischen Philosophie Platos. Die den Erscheinungen zugrundeliegende Struktur ist nicht durch materielle Objekte wie die Atome des Demokrit gegeben, sondern durch die Form, die die materiellen Objekte bestimmt. Die Ideen sind fundamentaler als die Objekte. Und da die kleinsten Teile der Materie die Objekte sein sollen, an denen die Einfachheit der Welt erkennbar wird, bei denen wir uns dem »Einen«, der »Einheitlichkeit« der Welt nähern, können die Ideen mathematisch beschrieben werden, sie sind einfach mathematische Formen. Der Satz, der in dieser Form wohl aus einer späteren Periode der Philosophie stammt: »Gott ist ein Mathematiker«, hat seine Wurzeln an dieser Stelle der platonischen Philosophie.
      Die Wichtigkeit dieses Schrittes im philosophischen Denken lässt sich kaum hoch genug einschätzen. Er kann als der entscheidende Beginn der mathematischen Naturwissenschaft angesehen und damit auch für die späteren technischen Anwendungen verantwortlich gemacht werden, die das ganze Bild der Welt verändert haben. Unter allen möglichen Formen des Verständnisses wird die eine, in der Mathematik praktizierte Form als das eigentliche »Verständnis« ausgewählt. Während doch jede Sprache, jede Kunst, jede Dichtung in irgendeiner Weise Verständnis vermittelt, wird hier behauptet, dass nur die Verwendung einer präzisen, logisch geschlossenen Sprache, einer Sprache, die so weit formalisiert werden kann, dass Beweise möglich werden, dass nur sie zu wahrem Verständnis führe. Man empfindet, wie stark der Eindruck war, den die Überzeugungskraft logischer und mathematischer Argumente auf die griechischen Philosophen gemacht hatte. Sie sind offenbar von dieser Kraft einfach überwältigt worden. Aber vielleicht haben sie an dieser Stelle zu früh kapituliert. [228-230]

     

  2. Antwort der modernen Naturwissenschaft auf die alten Probleme [231]:

    1. Unterschiede zwischen antiker Naturphilosophie und moderner Naturwissenschaft
      1. Veränderte Methode als Hauptunterschied: Die antike Naturphilosophie pflegt empirische Naturbetrachtung, die moderne Naturwissenschaft das Experiment:
        "Während in der antiken Philosophie die empirische Kenntnis der Naturerscheinungen für ausreichend galt, um Schlüsse auf die zugrunde liegenden Prinzipien zu ziehen, ist es ein charakteristischer Zug der modernen Wissenschaft, Experimente anzustellen, d.h. spezifische Fragen an die Natur zu richten, deren Beantwortung dann Auskunft über die Gesetzmäßigkeiten geben soll." [231]
      2. Veränderte Betrachtungsweise: Die antike Naturphilosophie sucht in der empirischen Naturbetrachtung nach grundlegenden Gesetzen, die moderne Naturwissenschaft im Experiment nach den Regelmäßigkeiten in den Einzelheiten:
        "Diese verschiedene Methode führt in der Folge auch zu einer sehr verschiedenen Betrachtungsweise. Die Aufmerksamkeit richtet sich nicht so sehr auf die grundlegenden Gesetze als vielmehr auf die Regelmäßigkeiten in den Einzelheiten. Die Naturwissenschaft wird sozusagen vom anderen Ende her entwickelt, nicht von den allgemeinen Gesetzen, sondern von einzelnen Erscheinungsgruppen her, bei denen die Natur die experimentell gestellten Fragen beantwortet hatte. Seit der Zeit, als Galilei der Legende nach seine Steine vom schiefen Turm zu Pisa fallen ließ, um die Fallgesetze zu studieren, beschäftigte sich die Naturwissenschaft mit den Einzelheiten bei den verschiedensten Erscheinungen, mit fallenden Steinen, mit der Bewegung des Mondes um die Erde, Wellen im Wasser, Lichtstrahlen, die durch ein Prisma gebrochen wurden, usw. Selbst als Isaac Newton die verschiedenen mechanischen Vorgänge in seinem Hauptwerk »Principia mathematica« durch ein einheitliches Gesetz verständlich machte, war die Aufmerksamkeit auf die Einzelheiten gerichtet, die aus den zugrunde liegenden mathematischen Prinzipien abgeleitet werden sollten. Das richtige, das heißt mit der Erfahrung übereinstimmende Ergebnis bei der Ableitung der Einzelheiten galt als das entscheidende Kriterium für die Richtigkeit der Theorie." [231]
      3. Technische Anwendbarkeit des naturwissenschaftlichen Einzelwissens (Experiment --> Kenntnisse in den Einzelheiten --> technische Anwendung):
        "Eine genaue Kenntnis der Einzelheiten... setzt den Menschen instand, die Erscheinungen innerhalb gewisser Grenzen nach seinem Willen zu lenken. Die technischen Anwendungen der modernen Naturwissenschaft beginnen also mit der Kenntnis der Einzelheiten." [231f.]
      4. Veränderte Auffassung von Naturgesetz: Das Hauptgewicht des Interesses verlagert sich vom Allgemeinen auf den Einzelfall:
        "Dadurch ändert sich auch der Begriff »Naturgesetz« allmählich in seiner Bedeutung; das Hauptgewicht liegt nicht mehr bei der Allgemeinheit, sondern bei den Konsequenzen hinsichtlich der Einzelheiten. Das Gesetz wird zu einer Vorschrift für technische Anwendungen. Als wichtigster Zug des Naturgesetzes gilt es jetzt, eine Vorhersage darüber zu ermöglichen, was in einem gegebenen Experiment herauskommen wird." [232]
      5. Veränderter Zeitbegriff:
        "Nicht eine ewig unveränderliche Struktur wird in einem Naturgesetz ausgesprochen, sondern es kommt auf die Regelmäßigkeit in den zeitlichen Veränderungen an." [232]
      6. Neue mathematische Form des Naturgesetzes:
        "Wenn ein Naturgesetz... in einer exakten mathematischen Sprache formuliert wird, so bieten sich dem Physiker sofort unzählige verschiedene Experimente an, die er ausführen könnte, um die Richtigkeit des behaupteten Gesetzes zu prüfen. Eine einzige Nichtübereinstimmung zwischen Theorie und Experiment könnte die Theorie widerlegen. Diese Situation gibt der mathematischen Formulierung eines Naturgesetzes ein enormes Gewicht. Wenn alle bekannten experimentellen Tatsachen mit den Ergebnissen übereinstimmen, die mathematisch aus dem Gesetz abgeleitet wurden, so wird es außerordentlich schwierig, an der allgemeinen Gültigkeit des Gesetzes zu zweifeln. Daher ist es begreiflich, dass Newtons »Principia« für mehr als zwei Jahrhunderte die Wissenschaft beherrscht haben." [232]
      7. Moderne Fortschritte in der allgemeinen Theoriebildung: Exakte Ausarbeitung der statistischen Theorie der Wärme; Vereinigung der Theorie der elektromagnetischen Felder und der speziellen Relativitätstheorie; die mathematische Formulierung der Quantentheorie. Die Beziehungen insbesondere zwischen Relativitätstheorie und Quantentheorie sind noch nicht vollständig geklärt.
        "Wenn man die Physik von Newton bis in die Gegenwart verfolgt, so erkennt man, dass - trotz des Interesses für die Einzelheiten - mehrere Male sehr allgemeine Naturgesetze formuliert worden sind. Im 19. Jahrhundert ist die statistische Theorie der Wärme exakt ausgearbeitet worden. Die Theorie der elektromagnetischen Felder und die spezielle Relativitätstheorie konnten zu einer sehr allgemeinen Gruppe von Naturgesetzen vereinigt werden, die Aussagen nicht nur über die elektrischen Erscheinungen, sondern auch über die Struktur von Raum und Zeit enthält. In unserem Jahrhundert hat die mathematische Formulierung der Quantentheorie zu einem Verständnis der äußeren Hülle der chemischen Atome und damit allgemein der chemischen Eigenschaften der Materie geführt. Die Beziehungen und Verbindungen zwischen diesen verschiedenen Gesetzen, insbesondere zwischen Relativitätstheorie und Quantentheorie sind noch nicht vollständig geklärt. Aber die jüngste Entwicklung der Physik der Elementarteilchen berechtigt zu der Hoffnung, dass diese Beziehung in einer relativ nahen Zukunft befriedigend analysiert werden können." [232f.]
    2. Mögliche Antworten der modernen Naturwissenschaft auf die alten Fragen:
      1. Im 19.Jh. folgten Chemie und Physik (Wärmelehre) ziemlich genau und mit großem Erfolg der von Leukipp und Demokrit entwickelten Atomlehre. Die Entdeckung der weiteren Teilbarkeit der Atome war nicht einschneidend, weil jetzt diese Elementarteilchen "Atome" im Sinne des Materialismus zu sein schienen.
        "Die Tatsache, dass man ein einzelnes Elementarteilchen - etwa in der Nebelkammer oder Blasenkammer - wenigstens indirekt wirklich sehen kann, unterstützt die Ansicht, dass die kleinsten Einheiten der Materie wirklich physikalische Objekte seien, die in gleichem Sinne existieren wie etwa Steine oder Blumen." [233]
      2. Die Frage der unendlichen Teilbarkeit der Materie stellt sich auch auf der nächsten Stufe:
        "Ist es nicht möglich, so muss man fragen, auch die Elementarteilchen weiter zu teilen? Wenn die Antwort auf diese Frage »ja« lautet, so sind auch die Elementarteilchen keine Atome in griechischem Sinne, keine unteilbaren Einheiten. Wenn sie »nein« lautet, so muss man erklären, warum die Elementarteilchen nicht weiter zerlegt werden können. Bisher ist es doch immer möglich gewesen, schließlich auch jene Teilchen zu spalten, die lange Zeit hindurch als kleinste Einheiten gegolten hatten, wenn man für ihre Spaltung nur hinreichend große Kräfte verwandte. Daher lag es nahe anzunehmen, dass man durch Vergrößerung der Kräfte, d.h. einfach durch Vergrößerung der Energie beim Zusammenstoß von Teilchen, schließlich auch Protonen und Neutronen sollte zerlegen können. Und dies würde wahrscheinlich bedeuten, dass man überhaupt nie an ein Ende kommt, da es eben keine kleinsten Einheiten der Materie gibt." [234]
      3. Sind die Elementarteilchen gewöhnliche physikalische Objekte (wie Steine und Blumen)? Die mathematisch formulierte Quantentheorie zeigt klar, dass die Begriffe unserer gewöhnlichen Anschauung auf Elementarteilchen nicht eindeutig anwendbar sind.
        "Alle die Wörter oder Begriffe, mit denen wir die gewöhnlichen physikalischen Objekte beschreiben, wie etwa Lage, Geschwindigkeit, Farbe, Größe usw., werden unbestimmt und problematisch, wenn wir versuchen, sie auf die kleinsten Teile anzuwenden... Es ist aber wichtig festzustellen, dass während das Verhalten der kleinsten Teile in der gewöhnlichen Sprache nicht unzweideutig beschrieben werden kann, die mathematische Sprache doch dafür ausreicht, Sachverhalte eindeutig festzulegen." [234f.]
      4. Lösung der Frage nach der unendlichen Teilbarkeit der Materie durch Versuche in Teilchenbeschleunigern: Beim Zusammenstoß von Elementarteilchen mit sehr hoher Energie "zerfallen" diese tatsächlich in Stücke, die allerdings nicht kleiner sind als die "zertrümmerten" Teilchen. Dabei sind bisher unabhängig von der Energie immer nur bereits bekannte Teilchen entstanden.
        "Ihre Ladung... ist stets ein ganzzahliges Vielfaches oder gleich der Ladung des Elektrons." Die beiden Thesen »Die Materie ist unendlich teilbar« und »Es gibt kleinste Einheiten der Materie« sind logisch vereinbar.
        "Daher beschreibt man diese Stoßprozesse am besten, nicht indem man behauptet, dass die stoßenden Teilchen zerschlagen worden seien, sondern indem man von der Entstehung neuer Teilchen aus der Stoßenergie im Einklang mit den Gesetzen der Relativitätstheorie spricht. Man kann sagen, dass alle Teilchen aus derselben Grundsubstanz gemacht seien, die man Energie oder Materie nennen kann; oder man kann formulieren: Die Grundsubstanz »Energie« wird zur »Materie«, indem sie sich in die Form eines Elementarteilchens begibt. In dieser Weise haben uns die neuen Experimente gelehrt, dass man die beiden scheinbar widersprechenden Behauptungen: »Die Materie ist unendlich teilbar« und »Es gibt kleinste Einheiten der Materie« vereinbaren kann, ohne in logische Schwierigkeiten zu geraten." [235f.]
      5. Entscheidung der modernen Physik für Platon gegen Leukipp / Demokrit: "...die kleinsten Einheiten der Materie sind tatsächlich nicht physikalische Objekte im gewöhnlichen Sinn des Wortes; sie sind Formen Strukturen oder - im Sinne Platos - Ideen, über die man unzweideutig nur in der Sprache der Mathematik sprechen kann." [236]
        "In der Gegenwart ist das zentrale Problem der Physik die mathematische Formulierung des Naturgesetzes, das dem Verhalten der Elementarteilchen zugrunde liegt. Wir schließen aus der experimentellen Situation, dass eine befriedigende Theorie der Elementarteilchen gleichzeitig eine Theorie der Physik im allgemeinen sein muss, damit auch alles dessen, was zu dieser Physik gehört... Eine einheitliche Theorie der Materie... muss im wesentlichen eine kleine Anzahl von grundlegenden Symmetrieeigenschaften der Natur darstellen, die empirisch seit einigen Jahr- zehnten bekannt sind, und... muss außer diesen Symmetrien noch das Prinzip der im Sinne der Relativitätstheorie verstandenen Kausalität enthalten... Diese Situation erinnert sofort an die geometrischen Körper, die Plato eingeführt hatte, um die grundlegenden Strukturen der Materie darzustellen. Platos Symmetrien waren noch nicht die richtigen; aber Plato hatte recht in dem Glauben, dass man schließlich im Zentrum der Natur, bei den kleinsten Einheiten der Materie, mathematische Symmetrien findet." [236f.]

       

  3. Folgerungen für die Entwicklung des menschlichen Denkens in unserer Zeit [237]:

    1. Der Konflikt zwischen Wissenschaft und Religion, die beide auf das "Eine" ausgerichtet sind (die tiefste Quelle alles Verstehens), beginnt in der Neuzeit mit dem Prozess gegen Galilei und erreicht seinen Höhepunkt mit dem Versuch des Dialektischen Materialismus, das Christentum zu überwinden.
    2. Auch die Harmonie in einem Gemeinwesen wird häufig von seiner Beziehung zum "Einen" abhängig gedacht, so dass ein Widerspruch zwischen einem wissenschaftlich verbürgten Einzelergebnis und der sozial anerkannten Redeweise über das "Eine" auftreten kann.
    3. Sowohl bei dem religiösen (1) als auch politisch-ideologischen (2) Konflikt handelt es sich nicht um den Kampf zweier "Lehren, etwa Materialismus und Idealismus,.. sondern um den Streit zwischen der wissenschaftlichen Methode der Erkundung der Einzelheit auf der einen Seite und der gemeinsamen Beziehung zu dem »Einen« auf der anderen. Der große Erfolg der wissenschaftlichen Methode, mit Versuch und Irrtum, schließt in unserer Zeit jede Definition der Wahrheit aus, die den scharfen Kriterien dieser Methode nicht stand- hielte" [238f.]
    4. Der Beitrag der modernen Naturwissenschaft besteht weniger in einer Entscheidung für oder gegen eine dieser Lehren (im 19. Jh. etwa für den Materialismus Demokrits; heute eher für den Idealismus Platons), sondern in der Warnung vor einem leichtfertigen Um- gang mit der Sprache: "Die Spannung zwischen der Forderung nach völliger Klarheit und der unvermeidbaren Unzulänglichkeit der existierenden Begriffe ist in der modernen Naturwissenschaft besonders ausgeprägt. Die Notwendigkeit, ständig zwischen der präzisen Sprache der Wissenschaft und der Alltagssprache hin und her zu wechseln, birgt die Möglichkeit vieler Missverständnisse.
    5. Platon selbst wechselte, nachdem er "die Möglichkeiten und Grenzen der präzisen Sprachen aufgezeigt hatte, ...zur Sprache der Dichter über, die im Hörer Bilder erzeugt, , die ihm eine ganz andere Art des Verstehens vermittelt... Wahrscheinlich sind diese Bilder mit unbewussten Formen unseres Denkens verknüpft, die von den Psychologen als Archetypen bezeichnet werden, Formen von stark emotionalem Charakter, die in irgendeiner Weise die inneren Strukturen der Welt spiegeln...(Es) dürfte an dieser Stelle die Sprache der Dichter wichtiger sein als die der Wissenschaft." [241f.]
Sententiae excerptae:
Griech. zu "Atomis"
Literatur:
zu "Atomis"
2424
Bloch, K.
Anaxagoras und die Atomistik
in: Class et Mediaev. 1959, 1ff.

1445
Capelle, W.
Die Vorsokratiker. Die Fragmente und Quellenberichte , übersetzt und eingeleitet von...
Stuttgart (Kröner, TB 119) 7/1968

1447
Diels, H. / Kranz, W.
Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und deutsch, I-III [maßgebliche Ausgabe der Vorsokratiker]
Belin (Weidmann) 1960

4592
Eckstein, Friedrich
Abriss der griechischen Philosophie
Franfurt (Main), Hirschgraben, 3/1969

1456
Fritz, K.v.
Grundprobleme der Geschichte der antiken Wissenschaft, S.221-250
Berlin, New York (de Gruyter) 1971.

1448
Gadamer, H.G.
Um die Begriffswelt der Vorsokratiker
Darmstadt (WBG, WdF 9) 1968

1442
Löbl, R.
Demokrits Atomphysik
Darmstadt (WBG Erträge 252) 1987

1478
Nestle, W.
Die Atomistik und die Anfänge der wissenschaftlichen Medizin
in: Vom Mythos zum Logos, Stuttgart 1942, S. 193ff

1479
Römer, H.
Atome, Teilchen, Teilbarkeit. Zum Paradox von Ausgedehntheit und Teilbarkeit
in: Universitas 12/1992, 1170-1184

1451
Sambursky, S.
Das physikalische Weltbild der Antike
Zürich, Stuttgart (Artemis) 1965

1437
Schadewaldt, W.
Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen. Tübinger Vorlesungen Bd. I
Frankfurt/M (Suhrkamp) 1/1978

1485
Schenk, G.
Das unsichtbare Universum. Nuklearphysik
Berlin (Safari) 1964

1441
Schirnding, A.v.
Am Anfang war das Staunen. Ãœber den Ursprung der Philosophie bei den Griechen
München (Kösel) 1978

4085
Schulze, Peter
Anatomisches Wörterbuch. Lateinisch-deutsch, deutsch-lateinisch
Stuttgart, Thieme, 2008

2316
Schwegler, Albert
Geschichte der Philosophie im Umriss. Ein Leitfaden zur Ãœbersicht
Stuttgart, Conradi 9/1876

1480
Seide, R.
Zum Problem des geometrischen Atomismus bei Demokrit
in: Herm. 109/1981, 265

1979
Stückelberger, A.
Die Atomistik in römischer Zeit: Rezeption und Verdrängung
in: ANRW II.36.4 (1990) 2561-2580


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