Vorsokratische Philosophie
Sophistik
(VS 88) Kritias
Kritias (ca.
455-403 v.Chr.) war als Politiker sophistisch gebildet, demokratiefeindlich
und spartafreundlich. Als Mitglied der „Dreißig“ verbreitete
er Schrecken. Seine Kusine Periktione war Platons Mutter. Als Dichter
verfasste er eine Tragödientrilogie (Tennes, Rhadamanthys, Peirithoos).
Aus dem abschließenden Satyrspiel „Sisyphos“ stammt das religionskritische
Fragment. |
(VS88B25) |
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ἦν χρόνος, ὅτ' ἦν ἄτακτος ἀνθρώπων βίος
καὶ θηριώδης ἰσχύος θ' ὑπηρέτης,
ὅτ' οὐδὲν ἆθλον οὔτε τοῖς ἐσθλοῖσιν ἦν
οὔτ' αὖ κόλασμα τοῖς κακοῖς ἐγίγνετο. |
Es gab eine
Zeit, als ohne Ordnung der Menschen Leben war, nach Art der Tiere
und im Dienst der Stärke stand, als es weder einen Preis für
Gute noch Strafe andererseits für Schlechte gab. |
5 |
κἄπειτά μοι δοκοῦσιν ἄνθρωποι νόμους
θέσθαι κολαστάς, ἵνα δίκη τύραννος ᾖ
<ὁμῶς ἁπάντων>
τήν θ' ὕβριν δούλην ἔχῃ
ἐζημιοῦτο δ' εἴ τις ἐξαμαρτάνοι.
ἔπειτ' ἐπειδὴ τἀμφανῆ μὲν οἱ νόμοι |
Da scheinen
mir die Menschen strafende Gesetze erlassen zu haben, damit das Recht
die Herrschaft habe in gleicher Weise über alle, den Frevelmut
sich unterwerfe. Bestraft aber wurde, wer immer sich verging. |
10 |
ἀπεῖργον αὐτοὺς ἔργα μὴ πράσσειν βίᾳ,
λάθρᾳ δ' ἔπρασσον, τηνικαῦτά μοι δοκεῖ
<πρῶτον> πυκνός
τις καὶ σοφὸς γνώμην ἀνήρ
<θεῶν> δέος θνητοῖσιν ἐξευρεῖν, ὅπως
εἴη τι δεῖμα τοῖς κακοῖσι, κἂν λάθρᾳ |
Indes, da
die Gesetze sie daran hinderten, offen Gewalttaten zu begehen, sie
sie aber heimlich taten, scheint mir da zunächst ein kluger und
ein weiser Mann die Furcht vor Göttern für die Menschen
erfunden zu haben, damit Furcht es gäbe für die Schlechten,
auch wenn sie heimlich |
15 |
πράσσωσιν ἢ λέγωσιν ἢ φρονῶσί <τι>.
ἐντεῦθεν οὖν τὸ θεῖον εἰσηγήσατο,
ὡς ἔστι δαίμων ἀφθίτῳ θάλλων βίῳ,
νόῳ τ' ἀκούων καὶ βλέπων, φρονῶν τ' ἄγαν
προσέχων τε ταῦτα, καὶ φύσιν θείαν φορῶν, |
handelten
oder redeten oder dächten. Deshalb nun führte er die Gottheit
ein, dass es einen Gott gibt in unvergänglichem Leben prangend,
mit dem Geiste hörend, sehend und über alle Maßen
denkend, der dies beachtet und ein göttliches Wesen an sich trägt, |
20 |
ὃς πᾶν τὸ λεχθὲν ἐν βροτοῖς ἀκούσεται,
<τὸ> δρώμενον δὲ πᾶν ἰδεῖν δυνήσεται.
ἐὰν δὲ σὺν σιγῇ τι βουλεύῃς κακόν>,
τοῦτ' οὐχὶ λήσει τοὺς θεούς· τὸ γὰρ φρονοῦν
<ἄγαν> ἔνεστι.
τούσδε τοὺς λόγους λέγων |
der alles,
was unter Menschen gesagt wird, hören und alles, was getan wird,
sehen kann. Und denkst du schweigend dir was Schlechtes aus, so wird
es nicht den Göttern verborgen bleiben. Denn das Denken eignet
ihnen im Übermaß. Mit diesen Worten |
25 |
διδαγμάτων ἥδιστον εἰσηγήσατο
ψευδεῖ καλύψας τὴν ἀλήθειαν λόγῳ.
ναίειν δ' ἔφασκε τοὺς θεοὺς ἐνταῦθ', ἵνα
μάλιστ' ἂν ἐξέπληξεν ἀνθρώπους λέγων,
ὅθεν περ ἔγνω τοὺς φόβους ὄντας βροτοῖς |
führte
er die verführendste Rede ein, indem er mit einem Lügenwort
die Wahrheit verhüllte. Es wohnten, sagte er, die Götter
da, wo er die Menschen am meisten schrecken musste, woher, wie er
erkannte, die Furcht den Menschen stammte, |
30 |
καὶ τὰς ὀνήσεις τῳ ταλαιπώρῳ
βίῳ,
ἐκ τῆς ὕπερθε περιφορᾶς, ἵν' ἀστραπάς
κατεῖδεν οὔσας, δεινὰ δὲ κτυπήματα
βροντῆς, τό τ' ἀστερωπὸν οὐρανοῦ δέμας,
Χρόνου καλὸν ποίκιλμα τέκτονος σοφοῦ, |
und die
Segnungen für das leidgeprüfte Leben, vom Himmelsgewölbe
oben wo, wie er sah, die Blitze sind und die schrecklichen Donnerschläge
und der gestirnte Himmelsbau, des weisen Baumeisters Chronos schön
bestickte Werk. |
35 |
ὅθεν τε λαμπρὸς ἀστέρος στείχει μύδρος
ὅ θ' ὑγρὸς εἰς γῆν ὄμβρος ἐκπορεύεται.
τοίους δὲ περιέστησεν ἀνθρώποις φόβους,
δι' οὓς καλῶς τε τῷ λόγῳ κατῴκισεν
τὸν δαίμον' οὗ<τος> κἀν πρέποντι χωρίῳ, |
von wo der
glühende Ball der Sonne zieht und der feuchte Regen auf die Erde
ausgeht. Solche Ängste stellte dieser um die Menschen, deretwegen
er in seiner Rede geschickt die Gottheit ansiedelte und an geziemendem
Ort |
40 |
τὴν ἀνομίαν τε τοῖς νόμοις κατέσβεσεν.
καὶ ὀλίγα προσδιελθὼν ἐπιφέρει·
<οὕτω δὲ πρῶτον οἴομαι
πεῖσαί τινα
θνητοὺς νομίζειν δαιμόνων εἶναι γένος.> |
und so den
Gesetzen die Gesetzlosigkeit auslöschte. Und kurz darauf fügt
er hinzu: So hat, wie ich glaube, zum ersten Mal einer die
Sterblichen überredet zu glauben, dass es ein Geschlecht der
Götter gibt. |
1 ἄτακτος - ungeordnet | 2 θηριώδης - tierisch
| ὁ ὑπηρέτης – Diener, Knecht (adj.: untergeben) | 4 τὸ κόλασμα –
Strafe, Züchtigung | 6 ὁ κολαστής – der Züchtiger | νόμους
κολαστάς – Strafgesetze | 7 ὁμῶς – in gleicher Weise | 9 ἐμφανής –
sichtbar, offen | 11 τηνικαῦτα – damals |12 πυκνός – (dicht, fest)
schlau | σοφὸς γνώμην – (adv. Akk.) klug | 13/7 τὸ δέος, τὸ δεῖμα
– Furcht, Schrecken | τὸ θεῖον – Götterglaube, Religion | 17
θάλλω – blühe, strotze von | προσέχω τι – achte auf, kümmere
mich um etw. | 24 ἔνεστι <τοῖς θεοῖς> | 25 τὸ δίδαγμα – Lehre
| 30 ἡ ὄνησις – Nutzen, Hilfe | ταλαίπορος - mühselig | ἡ περιφορά
- der Umschwung, das Firmament | ἐκ τῆς ὕπερθε περιφορᾶς – aus dem
Weltkreis oben, „aus dem sich drehenden Gewölbe dort oben“ |
ἡ ἀστραπή - Blitz | 32 τὸ κτύπημα – der Schlag, das Krachen | ἵνα
- wo | 33 ἡ βροντή - Donner | 35 ὁ μύδρος – glühender Metallklumpen,
Sternenmasse (der Sonne) | 38 κατοικίζω – siedele an, gebe einen Wohnsitz |
- Welche Stufen der Kulturentwicklung unterscheidet der Text?
- Naturzustand: Die Menschen leben nach Art
der Tiere; Es herrscht das Naturgesetz. Im Kampf
ums Dasein setzt sich der physisch Stärkere
durch. Er handelt "jenseits von Gut und Böse".
- Gesellschaftszustand: eine Art menschlicher
Sozialisation, die wieder in zwei Abschnitte zerfällt:
- Gesetzeszustand: Das Gesetz zwingt
jetzt durch den äußeren Zwang der
Strafandrohung zu gesellschaftskonformem Verhalten.
Die Tyrannis des Gewaltherrschers wird von der Tyrannis der
Gesetze abgelöst, vor der alle Menschen
gleich sind. Mangel: Heimlich übertritt
man das Gesetz und sucht den Nutzen (Verbrechensgewinn),
den früher die Stärke auf freier Wildbahn
bot.
-
Erfindung der Religion: Um diesem
Mangel abzuhelfen kommt ein kluger Mann auf
die Idee, die Religion einzuführen. Die
allwissenden Götte haben den Gesetzen
gegenüber den Vorzug, dass sie den Rechtsbrecher
bis in seine geheimsten Gedanken durchschauen:
Die Furcht vor der Supertyrannis der Götter,
ergänzt verinnerlicht im Gewissen den
Gesetzgeber.
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- Welche Funktion hat die Religion in der Gesellschaft
- Ausgleich der lückenhaften Sanktionierung
der gesellschaftlichen Verbotsnormen
- durch göttliche Überhöhung
der "Exekutive".
- durch Verinnerlichung der Normen = Introjektion
(Gewissensbildung)
- Totale Kontrolle des menschlichen Handelns
- Tun, Reden, Denken
- vor Zeugen und ohne Zeugen
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- Welche Attribute werden der Gottheit zugewiesen:
- von Kritias
- Gott muss als absoluter Geist erscheinen (allwissend)
- er muss den Menschen schrecklich sein
- seine Dimensionen:
- Blitz, Donner, gestirnter Himmel, Weltenschöpfer
- Sonne, Regen
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- Vergleich mit Xenophanes
- Vergleich mit Dion
Chrysostomos (or.12,27ff.)
- Beurteilen Sie folgende Kritik an Kritias: "Die Religionstheorie
des Kritias ist zweifellos ein Stück Aufklärung...
Dennoch ist sie im Ansatz falsch. Kritias erkennt richtig die
Geschichtlichkeit der Religion, übersieht aber die Geschichtlichkeit
der Vernunft, Er unterstellt nämlich den früheren
Priestern ein Bewusstsein, wie es die zeitgenössischen
Sophisten besaßen, namentlich Kritias selbst." (Demandt,
56)
Die Kritik muss allein schon deswegen
zurückgewiesen werden, weil es sich nicht um ein
Stück sophistische Theorie, sondern um ein Stück
Literatur (ein Satyrspiel!) handelt, in dem nicht Kritias
spricht, sondern die mythische Gestalt des Sisyphos.
Ein vergleichbares Problem ergibt sich bei der Interpretation
des Prometheusmythos des Protagoras. |
- Eine grundlegende Überzeugung theistischer Religiosität
besagt, dass Gott den Menschen (nach seinem Bild) geschaffen
hat. Kritias verkehrt diesen Glaubenssatz in sein genaues Gegenteil:
Ein schlauer Mensch erfindet die Götter entsprechend den
menschlichen Bedürfnissen (11 ff.: τηνικαῦτά μοι δοκεῖ
<πρῶτον> πυκνός τις καὶ σοφὸς γνώμην ἀνήρ | <γνῶναι>
<θεῶν> δέος θνητοῖσιν ἐξευρεῖν). Vergleichen Sie damit die
Grundzüge der Kritik, die Ludwig Feuerbach (1804-1872)
am Christentum vorträgt!
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Sententiae excerptae: Griech. zu "Kritias" Literatur: zu "Kritias"1396
Barié, P.
Religion - Eine Erfindung der Herrschenden? ..Atheismus im...
in: AU XXVII 5/1984 S.20-32
2321
Blass, F.
Die Att. Beredsamkeit, I-III
Leipzig, Teubner 1868-880; 2/1887-1898
1446
Classen, C.J. (Hg.)
Sophistik
Darmstadt (WBG) 1976
1484
Graeser, A.
Critias: Religion als Erfindung
in: W. Röd (Hg.): Geschichte der Philosophie II, München (Beck) 1983, S. 60-63
2562
Nestle, W.
Kritias, eine Studie
in: Griechische Studien 1948, S.253ff.
2319
Nestle, W.
Vom Mythos zum Logos
Aalen 1966
2326
Oelmüller / Dölle / Ebach/ Przybylski (Hgg.)
Philosophische Arbeitsbücher 3. Diskurs Religion
Paderborn, Schöningh (UTB 895) 1979
1435
Wolf, E.
Rechtsphilosophie und Rechtsdenken im Zeitalter der Sophistik [Griech. Rechtsdenken II],
Frankfurt/M (Klostermann) 1952
- Letzte Aktualisierung: 30.12.2020 - 11:10 |