HISTORIA APOLLONII REGIS TYRI
31
DIE GESCHICHTE DES KÖNIGS APOLLONIUS VON TYRUS
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Mordanschlag gegen Tarsia
(31) Et dum haec aguntur, quodam die feriato Dionysias cum filia sua nomine Philomatia et Tarsia puella transibat per publicum.
31. Zu dieser Zeit ging an einem Feiertag Dionysias mit ihrer Tochter Philomatia und der jungen Tarsia durch die Stadt.
Videntes omnes cives speciem Tarsiae ornatam, omnibus civibus et honoratis miraculum apparebat, atque omnes dicebant: "Felix pater, cuius filia est Tarsia, illa vero, quae adhaeret lateri eius, multum turpis est atque dedecus."
Alle Bürger beschauten die schmucke Erscheinung Tarsias, und sie erschien dem gewöhnlichen Mann wie dem Hochgestellten als wahres Wunder. Alle sagten: "Glücklich der Vater, der Tarsia seine Tochter nennt! Die aber, die ihr zur Seite geht, ist arg hässlich und reiner Abscheu."
Dionysias vero, ut audivit laudare Tarsiam et suam vituperare filiam in insaniae furorem conversa est.
Als Dionysias hörte, wie man Tarsia lobte und ihre eigene Tochter nur tadelte, packte sie eine wahnsinnige Wut.
Et sedens sola coepit cogitare taliter: "Pater eius Apollonius, ex quo hinc profectus est, habet annos quattuordecim et nunquam venit ad suam recipiendam filiam nec nobis misit litteras. Puto, quia mortuus est aut in pelago periit. Nutrix vero eius decessit. Neminem habeo aemulum. Non potest fieri hoc, quod excogitavi, nisi ferro aut veneno tollam illam de medio; et ornamentis eius filiam meam ornabo."
Und als sie allein saß, begann sie in der Art zu denken: "Seit ihr Vater Apollonius von hier fortgegangen ist, sind es schon vierzehn Jahre, und er ist immer noch nicht gekommen, um seine Tochter zu sich zu nehmen; auch hat er uns nie geschrieben. Vermutlich ist er gestorben oder im Meer umgekommen. Ihre Amme aber ist tot: so steht mir niemand im Weg. Mein Plan kann nur gelingen, wenn ich sie mit dem Dolch oder Gift beiseite schaffe. Mit ihrem Schmuck werde ich dann meine Tochter herausputzen."
Et dum haec secum cogitat, nuntiatur ei vilicum venisse nomine Theophilum. Quem ad se convocans ait: "Si cupis habere libertatem cum praemio, tolle Tarsiam de medio!"
Noch während sie so bei sich überlegt, sagt man ihr, ihr Oberknecht Theophilus sei da. Sie ließ ihn vor sich kommen und sprach: "Wenn du die Freiheit und reichen Lohn haben willst, so beseitige mir Tarsia!"
vilicus ait: "Quid enim peccavit virgo innocens?" Scelesta mulier ait: "Iam mihi non pares? Tantum fac, quod iubeo! Sin alias, sentias esse contra te iratos dominum et dominam." vilicus ait: "Et qualiter hoc potest fieri?" Scelesta mulier ait: "Consuetudo sibi est, ut mox, cum de schola venerit, non prius cibum sumat, antequam monumentum suae nutricis intraverit. Oportet te ibi cum pugione abscondere, et eam venientem interfice et proice corpus eius in mare. Et cum adveneris et de hoc facto nuntiaveris, cum praemio libertatem accipies."
Der Knecht fragte: "Was hat denn das unschuldige Mädchen verbrochen?" - "Du willst mir also nicht gehorchen?" entgegnete das Schandweib; "Tu nur, was ich dich heiße, andernfalls sollst du schon den Zorn deines Herrn und deiner Herrin spüren!" - "Und wie kann das bewerkstellig werden?" gab der Knecht zur Antwort. "Sie hat die Gewohnheit", sagte das Schandweib, "wenn sie von der Schule kommt, nicht eher etwas zu sich zu nehmen, bis sie das Grabmal ihrer Amme besucht hat. Dort musst du dich mit einem Dolch verstecken; wenn sie kommt, töte sie und wirf ihren Leib ins Meer. Sobald du herkommst und mit sagst, dass die Sache erledigt ist, wirst du mit deinem Lohn deine Freiheit erhalten."
vilicus tulit pugionem et latere suo celat et intuens caelum ait: "Deus, ego non merui libertatem accipere nisi per effusionem sanguinis virginis innocentis?" Et haec dicens suspirans et flens ibat ad monumentum nutricis Tarsiae et ibi latuit.
Der Knecht nahm einen Dolch, versteckt ihn in der Seite und sagt, indem er zum Himmel aufblickt: "Guter Gott, habe ich es nicht verdient, die Freiheit zu erhalten, ohne das Blut eines unschuldigen Mädchens zu vergießen?" Mit solchen Worten ging er in Seufzen und Weinen zu dem Grab von Tarsias Amme und hielt sich dort verborgen.
Puella autem rediens de schola solito more fudit ampullam vini et ingressa monumentum posuit coronas supra; et dum invocat manes parentum suorum, vilicus impetum fecit et aversae puellae capillos apprehendit et eam iactavit in terram.
Als das Mädchen aus der Schule zurückkam, goss es, wie auch sonst, das Fläschchen mit Wein aus, trat in das Grabmal ein und legte Kränze auf. Während es gerade die guten Geister ihrer Eltern anrief, drang der Knecht auf das Mädchen ein, packte es von hinten bei den Haaren und warf es zur Erde.
Et cum eam vellet percutere, ait ad eum puella: "Theophile, quid peccavi, ut manu tua innocens virgo moriar?" Cui vilicus ait: "Tu nihil peccasti, sed pater tuus peccavit Apollonius, qui te cum magna pecunia et vestimentis regalibus reliquit Stranguillioni et Dionysiadi."
Da er mit dem Dolch zustoßen wollte, sagt das Mädchen zu ihm: " O Theophilus, was habe ich denn gefehlt, dass ich unschuldiges Mädchen von deiner Hand sterben soll?" - "Du hast nichts gefehlt", antwortete der Knecht, "wohl aber hat dein Vater Apollonius den Fehler gemacht, dass er dich mit großem Reichtum und königlichen Gewändern bei Stranguillio und Dionysias zurückließ."
Quod puella audiens eum cum lacrimis deprecata est: "Vitae meae spes aut solacium, permitte me testari dominum!" Cui vilicus ait: "Testare! Et deus ipse scit voluntate me hoc scelus non facere."
Als die Jungfrau dies hörte, flehte sie ihn unter Tränen an: "Meines Lebens Hoffnung und Trost, lass mich zu Gott beten!" - "So bete denn!", sagte der Knecht; "Gott weiß selber, dass ich nicht aus freien Stücken diese arge Tat begehe."
Text nach der Ausgabe von Gareth Schmeling, Ãœbersetzung nach R.Peters. Bearbeitet v. E.Gottwein
Die Geschichte des Königs Apollonius von Tyrus, der Lieblingsroman des Mittelalters. Eingeleitet und nach der ältesten lateinischen Textform zum erstenmal übersetzt von Richard Peters
Berlin, Leipzig (J.Hegner) o.J. (ca. 1904)
Weymann, G.
in: Rh.Mus.64,1909, S. 156-157