Anaximander
Aufgaben zur Interpretation
Aufgaben:
Afg. 1-2 |
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- Wie soll man sich, bzw. kann man sich überhaupt das
ἄπειρον Anaximanders vorstellen
(räumlich, quantitativ, qualitativ, visuell, geistig,
göttlich, materiell,...) oder muss es sich seinem Wesen
nach nicht auch jeder positiven begrifflichen Bestimmung entziehen?
"Anaximander
hielt es nicht für angebracht, dem Urstoff
einen Namen zu geben, da jede spezifische Benennung
ihn der wesentlichen Charakteristik beraubt hätte,
die das wahre Sein seine Idee ausmacht, nämlich
seiner völligen Attributlosigkeit." |
- Welche Bedeutung hat das ἄπειρον
bei Anaximander für γένεσίς
und φθορά, wenn man seinen Lösungsansatz
mit dem des Thales für die gleiche Grundfrage vergleicht?
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Afg. 3 |
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- Untersuchen Sie die Bedeutung und Verwendung des Epithetons
ἀπείρων bei Homer und
und überlegen Sie, ob es eine Entwicklung zu Anaximander
hin gibt!
- Hom.Il.7,446:
Die Götter sind bei Zeus versammelt und bestaunen
die Mauer, die die Griechen um ihr Schiffslager angelegt
haben. Poseidon, der an der Eigenmächtigkeit der
Griechen Anstoß nimmt, und seinen eigenen Ruhm als
"Mauerbauer" schwinden sieht, ergreift das Wort:
Ζεῦ πάτερ,
ἦ ῥά τίς ἐστι
βροτῶν ἐπ'
ἀπείρονα
γαῖαν
ὅς
τις ἔτ' ἀθανάτοισι
νόον καὶ
μῆτιν ἐνίψει; |
- Hom.Od.1,98:
Athene begibt sich Anschluss an die Götterversammlung
auf den Weg nach Ithaka, um Telemach auf seine Aufgabe
vorzubereiten:
ὣς εἰποῦς'
ὑπὸ ποσσὶν
ἐδήσατο
καλὰ πέδιλα,
ἀμβρόσια
χρύσεια,
τά μιν φέρον
ἠμὲν ἐφ' ὑγρὴν
ἠδ' ἐπ' ἀπείρονα
γαῖαν ἅμα
πνοιῇς' ἀνέμοιο. |
- Hom.Il.1,340:
Achilleus hat wohl oder übel sein Beutemädchen
Agamemnon zurückgegeben. Er zieht sich traurig an
das Meer zurück, um zu seiner Mutter zu beten:
αὐτὰρ Ἀχιλλεὺς
δακρύσας
ἑτάρων ἄφαρ
ἕζετο νόσφι
λιασθείς,
θῖν' ἔφ' ἁλὸς
πολιῆς, ὁρόων
ἐπ' ἀπείρονα
πόντον· |
- Hom.Il.24,776:
Nach der Auslösung von Hektors Leiche klagt auch
Helena um ihn. Der Vers beschreibt die Wirkung ihrer Klage
auf die "unübersehbare, zahllose" Volksmenge:
Ὣς ἔφατο
κλαίουσ',
ἐπὶ δ' ἔστενε
δῆμος ἀπείρων.
λαοῖσιν |
- Hom.Od.7,286:
Odysseus hat sich endlich auf die Phäakeninsel Scheria
retten können und fällt unter einem Gebüsch
in einen Tiefschlaf:
ὕπνον δὲ
θεὸς κατ'
ἀπείρονα
χεῦεν.
ἔνθα
μὲν ἐν φύλλοισι,
φίλον τετιημένος
ἦτορ, |
- Hom.Od.8,340:
in einem witzig-ironischen Gespräch fragt Apollon
Hermes (unter Anspielung auf Ares), ob er "endlose,
unauflösliche" Fesseln, in Kauf nehmen würde,
wenn er dafür an der Seite Aphrodites schlafen dürfe. Der antwortet:
"αἲ γὰρ
τοῦτο γένοιτο,
ἄναξ ἑκατηβόλ'
Ἄπολλον.
δεσμοὶ μὲν
τρὶς τόσσοι
ἀπείρονες
ἀμφὶς ἔχοιεν,
ὑμεῖς δ' εἰσορόῳτε
θεοὶ πᾶσαί
τε θέαιναι,
αὐτὰρ ἐγὼν
εὕδοιμι
παρὰ χρυσέῃ
Ἀφροδίτῃ." |
.Lösungsvorschläge:
- überall wird die visuelle Vorstellung räumlicher Weite erzeugt;
- ἀπείρων verbindet sich
bei Homer besonders häufig mit elementaren Naturgegebenheiten,
die auch von den Vorsokratikern als Urstoffe gedacht wurden:
Erde, Meer
- Bei Homer ist ἀπείρων
fast ausschließlich aus einer göttlichen, den menschlichen
Horizont übersteigenden Perspektive gebraucht. Dieser
Aspekt passt gut zu Anaximander.
- ἀπείρων ist bei Homer sinnenfällig anschaulich, bei Anaximander wird
davon abstrahiert: Das ἄπειρον
ist nicht die konkrete Lebenswelt von Menschen und Göttern.
- Bei Homer ist ἀπείρων
nur als Adjektiv denkbar. Bei Anaximander steht das Substantiv
τὸ ἄπειρον
noch neben dem adjektivischen Gebrauch (ἑτέραν
τινὰ φύσιν
ἄπειρον, 12A9).
- Das Epitheton wird durch Substantivierung nach der Quellenlage
bei Anaximander zu einem Wesensbegriff im Neutrum: Das ἄπειρον
ist nicht mehr Eigenschaft, menschliches Maß überschreitender
Gottheiten (Erde, Meer, Schlaf, Fesseln), sondern ist selbst
die menschliches Maß überschreitende Gegebenheit.
- Diese Abstraktion und Verdinglichung könnte auf "retrospektivische
Verzeichnung" beruhen [hilfreich: Schadewaldt,
S. 236ff]
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Afg. 4 |
- Welche Kontroverse in der Erklärung des Textabschnitts
"τοὺς οὐρανοὺς
καὶ τοὺς ἐν
αὐτοῖς κόσμους"
(12A9) ist durch die
Alternative "im Sinne koexistierender Welten oder sukzessiver Weltperioden" (Anmerkungen) angedeutet?
(Aetios 2,1,3 scheint koexistierende Welten vorauszusetzen,
vgl. 12A17).
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Afg. 5 |
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- Untersuchen Sie, ob sich in den Textauszügen zu Anaximander
auch Belege für den attributiven und prädikativen
Gebrauch von ἄπειρος finden
lassen und ob sich diese Textbelege im Sinne einer zunehmenden
Abstraktion anordnen lassen!
- ἐξ ἀπείρου
αἰῶνος, A10 (Plut.)
- ἑτέραν τινὰ
φύσιν ἄπειρον,
A9 (Simplik.)
- φύσιν τινὰ
τοῦ ἀπείρου,
A11 (Hippol.)
- <ἀρχήν> τε
καὶ στοιχεῖον
εἴρηκε <τῶν
ὄντων τὸ ἄπειρον>,
A9 (Simplik.)
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Afg. 6-7 |
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- Durch welche Textbelege lässt sich die These erhärten,
Anaximander habe sich den Übergang aus dem ἄπειρον
zum πέρας ἔχον
unter den Begriffen von Geburt, Wachstum, Mutation und Evolution
vorgestellt?
- τὸ γόνιμον
(A10)
- φλογὸς σφαῖραν
περιφυῆναι
[...] ὡς τῷ δένδρῳ
<φλοιόν> (A10)
- τὰ δὲ ζῷα γίνεσθαι
[ἐξ ὑγροῦ] ἐξατμιζομένου
ὑπὸ τοῦ ἡλίου
(A11,6)
- ἐν ὑγρῷ γεννηθῆναι
τὰ πρῶτα ζῷα
<φλοιοῖς> περιεχόμενα
ἀκανθώδεσι
(A30)
- ἐξ ἀλλοειδῶν
ζῴων ὁ ἄνθρωπος
ἐγεννήθη (A10)
- τὸν ἄνθρωπον
πολυχρονίου
δεῖσθαι τιθηνήσεως
(A10)
- τὸν δὲ ἄνθρωπον
ἑτέρῳ ζῴῳ
γεγονέναι,
τουτέστι ἰχθύι
(A11,6)
- ἐν ἰχθύσιν
ἐγγενέσθαι
τὸ πρῶτον ἀνθρώπους
(A30)
- προβαινούσης
δὲ τῆς ἡλικίας
(A30)
- γενομένους
ἱκανοὺς ἑαυτοῖς
βοηθεῖν (A30)
- ἀποβαίνειν
ἐπὶ τὸ ξηρότερον
(A30)
- ἐκβῆναι τηνικαῦτα
καὶ γῆς λαβέσθαι
(A30)
- διασωθῆναι
(A10)
- ἐπ' ὀλίγον
χρόνον μεταβιῶναι
(A30)
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Afg. 8 |
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- Versuchen Sie Heideggers Deutung von τὸ χρεών
nachzuvollziehen, wobei Heidegger von einem etymologischen Zusammenhang von χρεών
mit ἡ χείρ ausgeht und als Grundfrage
seiner Philosophie den Zusammenhang von Sein und Seiendem
("Anwesen" und "Anwesendem") klären
will. Das Seiende ist die Gesamtheit der uns umgebenden Dingwelt.
Über ihr geht uns "das Sein" oder weitergehend
der "Sinn des Seins" verloren. Dazu ein Schlüsselsatz
(S.336): "Die Seinsvergessenheit ist die Vergessenheit
des Seins zum Seienden."
- Heidegger,
M. (S.334): "Das je-weilig Anwesende weilt κατὰ
τὸ χρεών. Gleichviel
wie wir τὸ χρεών
zu denken haben, das Wort ist der früheste Name für
das gedachte ἐόν δερ ἐόντα;
τὸ χρεών ist der
älteste Name, worin das Denken das Sein des Seienden
zur Sprache bringt." (S. 337): τὸ χρεών
ist dann das Einhändigen des Anwesens, welches Einhändigen
das Anwesen dem Anwesenden aushändigt und so
das Anwesende als ein solches gerade in der Hand behält,
d.h. im Anwesen wahrt." (S.342): Die ἐνέργεια,
die Aristoteles als Grundzug des Anwesens denkt, der Λόγος,
den Heraklit als den Grundzug des Anwesens denkt,
die Μοῖρα, die Parmenides als
den Grundzug des Anwesens denkt, das, Χρεών
das Anaximander als das Wesende im Anwesen denkt, nennen
das Selbe."
[Zur Interpretation von B1 vgl. bes. Schadewaldt,
S.239ff.]
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Afg. 9 |
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- In welchem Sinn ist das ἄπειρον
bei Anaximander Prinzip, wenn Sie die Differenzierungen für
das "Frühersein" zugrunde legen, die sich bei Kälin finden (zu A15)?
- Grundlegend intendiert ist der ontologische Aspekt ("der
Natur oder dem Sein nach"), doch ist die vorliegende
Differenziertheit dem Denken Anaximanders nicht gemäß,
so dass niemals die anderen Aspekte ausgeschlossen werden
können:
- logisch
- örtlich: A1: θαλάσσης
περίμετρον
πρῶτος ἔγραψεν,
ἀλλὰ καὶ σφαῖραν
κατεσκεύασε
A6: tὴν οἰκουμένην
ἐν πίνακι
γράψαι
- zeitlich: A1: εὗρεν δὲ
καὶ γνώμονα
πρῶτος A10: ἀπεφήνατο
δὲ τὴν φθορὰν
γίνεσθαι
καὶ πολὺ πρότερον
τὴν γένεσιν
ἐξ ἀπείρου
αἰῶνος A15:
τοῦ δὲ ἀπείρου
οὐκ ἔστιν
ἀρχή· εἴη
γὰρ ἂν αὐτοῦ
πέρας (wohl im Sinne zeitlichen
Anfangs und zeitlicher Begrenztheit) A15: ἀγένητον
καὶ ἄφθαρτον
ὡς ἀρχή τις
οὖσα A15: τό γὰρ
γενόμενον
ἀνάγκη τέλος
λαβεῖν A15: τελευτὴ
πάσης ἐστὶ
φθορᾶς A15: ἀθάνατον
γὰρ καὶ ἀνώλεθρον
- genetisch: A9: ἑτέραν
τινὰ φύσιν
ἄπειρον, ἐξ
ἧς ἅπαντας γίνεσθαι τοὺς οὐρανοὺς
καὶ τοὺς ἐν
αὐτοῖς κόσμους
Α9: ἐξ ὧν δὲ
ἡ γένεσίς ἐστι τοῖς
οὖσι, καὶ τὴν φθορὰν εἰς
ταῦτα γίνεσθαι
- ontologisch: A9: Auffassung als στοιχεῖον·
ἀρχήν τε καὶ
στοιχεῖον
εἴρηκε τῶν
ὄντων τὸ ἄπειρον
A9: Auffassung als (materieller) Urstoff: ἑτέραν
τινὰ φύσιν
ἄπειρον, ἐξ
ἧς ἅπαντας
γίνεσθαι
τοὺς οὐρανοὺς
καὶ ... Α15: αὕτη
(τὸ ἄπειρον)
τῶν ἄλλων
(ἀρχὴ) εἶναι
δοκεῖ καὶ
περιέχειν
ἅπαντα καὶ
πάντα κυβερνᾶν
A15: Auffassung als αἰτία.
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Afg.
10 |
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- Lassen sich in den Charakterisierungen des ἄπειρον
bei Anaximander Ausdrücke finden, die in der herkömmlichen,
archaischen Sprache dazu dienten, Wirken und Sein der Götter
zu charakterisieren?
- A11 ταύτην δ' <τὴν
ἀρχὴν> ἀίδιον
εἶναι καὶ <ἀγήρω>
- A15 ἀγένητον
καὶ ἄφθαρτον
| ἀγένητον καὶ
ἄφθαρτον | περιέχειν
ἅπαντα καὶ
πάντα κυβερνᾶν
| τοῦτ' <τὸ ἄπειρον>
εἶναι τὸ θεῖον·
<ἀθάνατον>
γὰρ καὶ <ἀνώλεθρον>
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Afg.
11-13 |
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- Bringt Anaximanders ἀρχή-Denken einen
Fortschritt gegenüber Thales?
- In welchem Begriff kündigt sich bei Anaximander ansatzweise
das Kausalitätsprinzip an?
- "keine Wirkung ohne hinreichenden (notwendigen)
Grund."
- In welcher These Anaximanders liegt im Ansatz der Begriff
der Gravitation?
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Afg. 14 |
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- Welche Vergleichspunkte konnten Anaximander veranlassen,
zur physikalischen Erklärung der Natur die Rechtsordnung
einer Stadt in Analogie zu setzen?
- Werden und Vergehen vollziehen sich als Übergang
von Unbegrenztem zu Begrenztem und umgekehrt. Begrenzung
und Entgrenzung führen aber zwangsläufig zu
"Grenz-", oder Rechtskonflikten. Zunächst
begeht der, der sich Niemandsland aneignet, gegenüber
denen Unrecht, die dies nicht tun. Zum anderen aber entsteht
zwischen den neuen Besitzern untereinander Streitigkeiten
um Größe, Lage, Wege, Wasserversorgung usw.
Erfolgen die Übergriffe auf das fremde Terrain anfangs
in Wildwestmanier nach dem Recht des Stärkeren, so
geht die Entwicklung, um Schlimmeres zu vermeiden, in
Richtung einer staatlich garantierten Eigentumsordnung:
es entsteht die Taxis der Bürgergemeinschaft, die
Übergriffe ahndet.
- Haben Anaximanders überraschend moderne Thesen zu einer
evolutionären Entwicklung des Lebens aus weniger entwickelten
Vorstufen (Kampf ums Dasein...) einen inneren Zusammenhang
zu seiner allgemeinen Vorstellung von physischen Prozessen?
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Sententiae excerptae: Griech. zu "Anaximander" Literatur: zu "Anaximander"1445
Capelle, W.
Die Vorsokratiker. Die Fragmente und Quellenberichte , übersetzt und eingeleitet von...
Stuttgart (Kröner, TB 119) 7/1968
2358
Classen, C.J.
Anaximander
in: Herm.90,1962 S.159-172
1447
Diels, H. / Kranz, W.
Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und deutsch, I-III [maßgebliche Ausgabe der Vorsokratiker]
Belin (Weidmann) 1960
1473
Dirlmeier, F.
Der Satz des Anaximandros von Milet (VS12B1)
in: Gadamer (Hg.), Begriffswelt, S. 88-94
2383
Fraenkel, H.
Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums. Eine Geschichte der griechischen Epik, Lyrik, Prosa bis zur Mitte des fünften Jahrhunders
New York 1951; München (Beck) 1962
1449
Fränkel, H.
Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums. Eine Geschichte der griechischen Epik, Lyrik und Prosa bis zur Mitte des 5. Jhs.
München (Beck) 2/1962
1475
Fritz, K.v.
Das APEIPON bei Aristoteles
in: Grundprobleme der Geschichte der antiken Wissenschaft, Berlin / New York (de Gruyter) 1971, S. 677-700
1448
Gadamer, H.G.
Um die Begriffswelt der Vorsokratiker
Darmstadt (WBG, WdF 9) 1968
1476
Heidegger, M.
Der Spruch des Anaximander
in: Holzwege, Frankfurt/M. 1972, S. 296-343
1443
Hölscher, U.
Anfängliches Fragen. Studien zur frühen griechischen Philosophie
Göttingen (V&R) 1968
312
Meyerhöfer, H.
Homer. Lyrik. Vorsokratiker (Thales. Anaximander. Pythagoras. Xenophanes. Parmenides. Heraklit
in: Erwachen.., Donauwörth 1976
1437
Schadewaldt, W.
Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen. Tübinger Vorlesungen Bd. I
Frankfurt/M (Suhrkamp) 1/1978
1441
Schirnding, A.v.
Am Anfang war das Staunen. Über den Ursprung der Philosophie bei den Griechen
München (Kösel) 1978
1436
Wolf, E.
Vorsokratiker und frühe Dichter [Griechisches Rechtsdenken I],
Frankfurt/M (Klostermann) 1950
- Letzte Aktualisierung: 30.12.2020 - 11:10 |